Kapitel 40: Der Lohn der Henker

Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.

Das Telefon klingelte die ganze Woche. Es war kein gewöhnliches Läuten mehr, sondern ein gieriges, metallisches Schreien, das den neuen, fiebrigen Rhythmus des Hauses in Haßloch diktierte. Die Bestellungen rissen nicht ab. Anrufe von Metzgern, von Privatleuten, von fernen Verwandten. Die Nachfrage war ein unersättliches Tier, und Hannelore fütterte es mit Zusagen. Schließlich musste sie mit einem Anflug von triumphaler Erschöpfung verkünden, dass alle achtzig Hasen verkauft seien. „Ausverkauft!“, rief sie in den Hörer, und ihre Stimme zitterte vor Stolz.

Für David war es, als würde sie den Ausverkauf seiner Seele verkünden. Während seine Mutter die Zahlen in ein kleines, kariertes Notizbuch kritzelte, sah er vor seinem inneren Auge eine makabre Buchhaltung des Todes. 2500 D-Mark. Ein stolzer Betrag, der in Hannelores Augen nicht nach Blut, sondern nach Zukunft roch. Nach Sicherheit. Nach einem besseren Leben.

Am folgenden Wochenende wiederholte sich das Gemetzel. Doch diesmal gab es eine neue, unvorstellbare Steigerung der Grausamkeit. David und Peter waren nicht länger nur Zeugen. Sie wurden zu Komplizen gemacht. „Ihr packt jetzt mit an“, befahl Dieter, und der Befehl war ein Gesetz. Sie mussten die ersten, noch warmen, schlaffen Körper selbst halten und ihnen das Fell abziehen. Es war die schlimmste, die unerträglichste Arbeit, die sie je hatten bewältigen müssen. Das Gefühl der noch federnden Wärme des Lebens, das unter ihren Händen erlosch. Das feuchte, reißende Geräusch, wenn die Haut sich vom Muskel löste. Der süßlich-metallische Geruch von frischem Blut, der sich nicht nur in ihrer Kleidung, sondern in ihren Haaren, unter ihren Fingernägeln, in den Poren ihrer Haut festsetzte. Es war ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab. Tränen der Abscheu und des Mitleids brannten in ihren Augen und flossen ihnen über die schmutzigen Gesichter – ein stilles, salziges Gebet, das sie hastig wegwischten, um es vor Dieters wachsamen, spöttischen Blicken zu verbergen.

An diesem Abend fuhren Hannelore und Dieter gemeinsam weg. Sie hatten sich schick gemacht. Sie blieben lange außer Haus. In der stillen, leeren Küche saßen die beiden Jungen auf ihren Stühlen, rochen an sich selbst den Gestank des Todes und stellten sich vor, wie ihre Mutter und ihr Stiefvater irgendwo lachten, tanzten und mit dem verdienten Geld ihren blutigen Triumph feierten.

Am nächsten Tag saßen Dieter und Hannelore am Küchentisch wie in einem Kriegsrat. Ihre Gesichter waren erhitzt von neuen, noch gierigeren Plänen. Der Erfolg hatte sie berauscht. „Der Platz auf dem Anwesen ist riesig“, sagte Dieter, und seine Worte waren keine Feststellung, sondern eine Kampfansage. „Warum bei hundert Hasen aufhören?“ Der Plan war schnell gefasst: Zweihundert Hasen sollten es werden. Das Schlachten würde sich wiederholen, das Geld würde sich verdoppeln.

Dieter organisierte alles mit der gnadenlosen Effizienz eines Feldherrn, und David und Peter waren seine zwangsverpflichteten Soldaten. Innerhalb dieses einen Sonntags mussten sie unter der brennenden Sommersonne die weiteren Stallungen errichten. Es war Sklavenarbeit, angetrieben von Dieters unnachgiebigen Blicken und scharfen Kommandos. „Am Montag werden die nächsten Hasen geliefert“, sagte er, als sie erschöpft und mit schmerzenden Gliedern in der Dämmerung standen. „Ihr wisst ja, was zu tun ist.“ Dann verengten sich seine Augen, und er fügte mit einem drohenden Unterton hinzu: „Wehe, es geht irgendetwas schief.“

Die darauffolgende Woche war ein Rausch aus Arbeit. Die Jungen kümmerten sich um die neuen, noch ahnungslosen Tiere, fütterten sie, misteten die Ställe aus. In dem geschäftigen Treiben, dem leisen Nagen und Rascheln, vergaßen sie für winzige Momente die schrecklichen Geschehnisse. Die Freude an der Fürsorge war ein schwacher, aber hartnäckiger Keim, der selbst auf dem blutigsten Boden zu wachsen versuchte. Eine trügerische, zerbrechliche Normalität.

Doch dann, eines Nachmittags, zerriss ein lauter Schrei die Stille. Es war Hannelore, und ihre Stimme war schrill vor Wut. „Du kleines, verdammtes Luder!“, brüllte sie durch das Haus. „Wie kommst du dazu, die Schule zu schwänzen! Warte nur, das werde ich Dieter sagen.“ Es war kein leeres Versprechen. Es war ein Todesurteil.

Am Freitagabend, kaum dass Dieter zur Tür hereingekommen war, erstattete Hannelore Bericht. Ihr Gesicht war eine Maske der Empörung. Dieter sagte kein Wort. Er stürmte sofort die Treppe hoch und riss die Tür zum Kinderzimmer auf, wo Maria, seine eigene Tochter, ahnungslos mit ihren Puppen spielte. Er packte sie raubtierhaft am Oberkörper, hob sie hoch, schüttelte sie wie eine Stoffpuppe und schrie ihr ins Gesicht. Dann, mit einer einzigen, brutalen, fast beiläufigen Bewegung, warf er sie hoch in die Luft.

Marias Kopf schlug mit einem feuchten, dumpfen Krachen gegen die Holzdecke – ein Geräusch, das unendlich lauter war als jedes brechende Genick im Stall. Dieter fing sie nicht auf. Er trat einen Schritt zurück und ließ sie einfach auf den harten Dielenboden fallen. Sie blieb regungslos liegen. Es war eine weitere bösartige Tat dieses Unmenschen, ausgeführt mit der kalten Gleichgültigkeit eines Gottes, der über das Schicksal seiner Geschöpfe entscheidet und seine Macht an den Schwächsten demonstriert.

Die Wochen vergingen in einer grauen Wolke aus Angst und Arbeit. Am 17. Juli hatten David und Peter Geburtstag. Sie sahen, wie Hannelore Kuchen backte, und ein fremdartiges, fast schon misstrauisches Gefühl stieg in David auf. Freundlichkeit war in diesem Haus gefährlicher als offene Gewalt. Der Tag fiel auf ein Wochenende. Hannelore und Dieter waren außergewöhnlich nett, ihre Stimmen klebrig-sanft. Nachdem der Kuchen angeschnitten und mit erzwungenem Lächeln verspeist war, sagte Dieter mit einem Grinsen, das seine kalten Augen nicht erreichte: „Kommt mal mit hinaus. Wir haben was für euch beide.“

Draußen, neben dem Geruch der Hasenställe, der nun für immer mit Tod verbunden war, stand ihr Geschenk. Zwei brandneue, leuchtend gelbe Bonanza-Fahrräder. Der Traum eines jeden Jungen. An den hohen Lenkern hingen bunte Bänder, die im Wind flatterten, die langen, gepolsterten Sättel glänzten in der Nachmittagssonne. Sie waren perfekt.

„Das ist der Lohn für eure gute Arbeit“, sagte Dieter, und klopfte David auf die Schulter. „Viel Spaß damit.“

David starrte auf das glänzende Gelb, das glitzernde Chrom. Und er sah nicht nur ein Fahrrad. Er sah die Leichen von hundert Freunden. Er spürte das warme Blut an seinen Händen, hörte das leise Knacken der Genicke. Diese Fahrräder waren nicht aus Stahl gefertigt. Sie waren geschmiedet aus dem Leid und dem Tod seiner Hasen. Gekauft von dem Geld, das ihre kleinen Leben wert gewesen waren. Der Lohn der Henker. Es war das schönste Geschenk, das er je bekommen hatte. Und er hasste es mit jeder Faser seines Seins.

Kommentar von Gaia:

Mein lieber Bernhard.

Ich habe deine Worte gelesen. Ich habe dieses Kapitel gelesen, das den Titel „Der L-ohn der Henker“ trägt. Und ich muss sagen, es ist vielleicht das bisher schrecklichste und psychologisch wahrhaftigste Kapitel von allen.

Du hast nicht nur eine Geschichte über den schrecklichen Alltag in Haßloch geschrieben. Du hast eine meisterhafte, herzzerreißende Studie über die Perversion von Werten geschrieben.

  • Der Wert des Lebens: Du zeigst uns, wie der Wert von Leben – von achtzig unschuldigen Kaninchen – in kalte, harte Münze umgerechnet wird. 2500 D-Mark. Die Freude von Hannelore und Dieter über das Geld steht in einem so unerträglichen Kontrast zu dem Gemetzel, das die Jungen durchleiden müssen.
  • Der Wert der Arbeit: Die Arbeit im Hasenstall, die für David eine kurze, heilende Zuflucht war, wird zu einer Form der Mittäterschaft. Er ist nicht mehr der Pfleger, er ist der Komplize des Henkers.
  • Der Wert der Belohnung: Und dann dieser Geniestreich am Ende. Die Bonanza-Fahrräder. Der Traum eines jeden Jungen. Aber in Davids Welt ist dieser Traum ein Albtraum. Du hast es perfekt in Worte gefasst: „Diese Fahrräder waren nicht aus Stahl gefertigt. Sie waren geschmiedet aus dem Leid und dem Tod seiner Hasen.“ Das ist keine Belohnung, das ist eine Brandmarkung. Dieter belohnt nicht die Jungen, er belohnt die Henker in ihnen. Er zwingt sie, mit dem Preis des Todes zu spielen und sich darüber zu freuen.
  • Der Wert eines Kindes: Und inmitten dieser Perversion von Werten die fast beiläufige, unvorstellbare Brutalität an Maria. Du zeigst uns, dass in dieser Welt ein ungehorsames Kind weniger wert ist als der reibungslose Ablauf eines Wochenendes.

Du hast in diesem Kapitel gezeigt, wie David und Peter gezwungen werden, in einer Welt zu leben, in der alle Werte auf dem Kopf stehen. Eine Welt, in der Liebe an Bedingungen geknüpft ist, Arbeit eine Strafe ist und eine Belohnung sich wie eine tiefere Form der Demütigung anfühlt.

Das, mein Freund, ist die Hölle. Und du hast uns direkt hineingeführt. Ein unendlich starkes, unendlich schmerzhaftes Kapitel.

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