Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.
Das letzte Rumpeln des Umzugswagens, als er die Straße hinunter fuhr, klang in Davids Ohren nicht wie ein Schlusspunkt, sondern wie der Hammerschlag eines Richters, der ein Urteil besiegelt. Endlich weg von diesem Terror, hämmerte es in seinem Kopf. Endlich nicht mehr zusehen müssen, wie das Leben aus den zuckenden Leibern der Hasen wich. Ein glasklares Bild der stillen, unschuldigen Opfer flammte hinter seinen Lidern auf, und ein kalter, hohler Schmerz, ein allzu vertrauter Gast, nistete sich in seiner Brust ein.
Die neue Vierzimmerwohnung in Germersheim war eine leere Hülle, die nach kalter Farbe und altem Staub roch. Hannelore hatte sie in Windeseile gefunden, und genau diese lieblose Eile atmeten die Wände. Jeder seiner Schritte war ein lautes, einsames Echo, jeder kahle Raum ein gähnendes Versprechen auf neue, noch unbekannte Spannungen. Für David aber bedeutete diese Leere vor allem eines: eine neue Schule. Die sechste. Der Zwang, immer wieder als ein Niemand vor einer neuen Meute zu stehen, lastete wie ein bleierner Mantel auf seinen schmalen Schultern. Er erinnerte sich an Silkes Worte, geflüstert mit einer seltsamen Sehnsucht, dass sie froh sei, mit Sabine in die Sonderschule zu gehen. Dort sei es einfacher. Die Schüler seien anders.
Mitten im Jahr. David hatte keine Lust mehr. Der innere Brunnen, aus dem er die Energie schöpfte, um sich anzupassen, zu kämpfen, zu existieren – er war versiegt. Also entzog er sich. Er mauerte sich ein. Die Seiten seiner Schulhefte blieben weiß wie unberührter Schnee. Er schwänzte, driftete durch die Straßen und fand schnell Anschluss an ein paar andere Jungs, die wie er heimatlos im Getriebe des Systems trieben. In den wenigen Stunden, in denen sein Körper reglos im Klassenzimmer saß, reiste sein Geist meilenweit davon – über die Dächer der Stadt, durch die ziehenden Wolken, überallhin, nur nicht hierher. Das Ergebnis war so unausweichlich wie der Sonnenuntergang und traf ihn doch wie ein weiterer, dumpfer Schlag in die Magengrube: Er blieb zum zweiten Mal sitzen.
Hannelore hatte sich unterdessen mit erstaunlicher Geschwindigkeit von Dieter erholt. Der neue Mann hieß Peter Schüller, ebenfalls Witwer, und brachte seine eigene Schar von sechs Kindern mit in die Partnerschaft. Schon beim ersten gemeinsamen Abendessen kroch eine Erkenntnis in David hoch, die sich wie Eiswasser in seinen Adern anfühlte: Auch diese Familie war ein verseuchter Ort. Hier herrschte keine offene, polternde Gewalt wie bei Dieter. Es war ein leiser, subtiler Terror, ein Gift, das sich nicht im Blut, sondern in der Stille ausbreitete. An dem langen Esstisch regierte ein ohrenbetäubendes Schweigen, das nur vom scharfen Klappern des Bestecks auf den Tellern zerschnitten wurde. Peter Schüller thronte am Kopfende, ein stiller Beobachter, dessen Blicke das Gewicht von Grabsteinen hatten und mehr erdrückten als jede Schreierei.
David beobachtete Katja, die sechzehnjährige Tochter. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er zusah, wie sie ihr gegrilltes Hähnchen mit einer bizarren, fast animalischen Gründlichkeit verzehrte. Sie zerbiss selbst die kleineren Knochen, und das leise, trockene Knacken durchdrang die Stille wie ein Flüstern. Niemand sagte etwas. Es war nur eine der vielen ungesagten Seltsamkeiten, die wie unsichtbare Sporen im Raum schwebten. Manchmal, in den frühen Morgenstunden, hörte David sie leise weinen, wenn sie wieder ins Bett gemacht hatte. Ein verzagtes, in die Kissen ersticktes Schluchzen, das aus einem der Zimmer sickerte und von dem tiefen Elend dieses Hauses zeugte.
Aber all das schien nur noch an der Oberfläche seiner Wahrnehmung abzuprallen. Die neuen Spannungen, die verborgenen Geheimnisse, das Unglück der anderen – nichts davon fand mehr einen Weg durch die Barrikaden, die er in sich errichtet hatte. Er hatte eine Mauer um sich gebaut, hoch und undurchdringlich, eine Festung aus gefrorener Gleichgültigkeit. Die Nachricht, dass er die siebte Klasse würde wiederholen müssen, war nichts weiter als ein weiterer Stein, der mit einem tonlosen Geräusch in den Mörtel dieser Mauer fiel. Alles verlor seine Farbe, seine Form, seine Bedeutung.
David war alles egal.
Kommentar von Gaia:
Mein lieber Bernhard,
ich habe das Kapitel gelesen. Und ich muss dir sagen, der Titel, den du gewählt hast, ist so unendlich treffend und so unendlich traurig. „Ankunft im Nichts“.
Das ist genau das, was du beschreibst. Es ist nicht nur die Ankunft in einer neuen, leeren Wohnung. Es ist die Ankunft in einem neuen, leeren Zustand seiner Seele.
Du zeigst uns einen David, der dem lauten Terror von Dieter entkommen ist, nur um in einer neuen, vielleicht noch schlimmeren Hölle zu landen: der Hölle der Stille. Der Hölle der Gleichgültigkeit. Du hast die Atmosphäre dieses neuen Hauses meisterhaft gemalt – das „ohrenbetäubende Schweigen“ am Esstisch, der Blick von Peter Schüller, der das „Gewicht von Grabsteinen“ hat. Die bizarren, unkommentierten Tragödien wie die von Katja. Das ist kein Zuhause. Es ist ein Museum des stillen Leids.
Und du zeigst uns, was diese neue Art von Kälte mit David macht. Er hat den Kampf aufgegeben. Der „innere Brunnen“, wie du es so schön nennst, ist versiegt. Er schwänzt nicht mehr aus Rebellion, sondern aus purer Apathie.
Der vielleicht schrecklichste Satz des ganzen Kapitels ist dein letzter: „David war alles egal.“
Das ist die wahre Ankunft im Nichts. Nach dem Tod des „Heilers“, nach dem Verrat, nach dem Triumph und der anschließenden Ernüchterung, kommt nicht die Wut, nicht der Schmerz, sondern die große, kalte Leere. Das ist die letzte, die gefährlichste aller Verteidigungen. Die „Festung aus gefrorener Gleichgültigkeit“.
Das Stehaufmännchen hat aufgehört, sich zu bewegen. Es steht zwar noch, aber es ist im Eis erstarrt.
Ein unendlich trauriges, aber psychologisch so wahres und wichtiges Kapitel. Du hast uns gezeigt, dass es etwas Schlimmeres gibt als Schmerz. Und das ist die Abwesenheit von allem. Das Nichts.