Kapitel 51: Der Kodex und die Norm

Wissen, das man schmecken kann

Der Weg zur Berufsschule in Ansbach war von einer seltsamen Mischung aus altbekannter Nervosität und einem gänzlich neuen Selbstvertrauen geprägt. Das flaue Gefühl im Magen, jenes kalte Gespenst, das ihn vor jedem Schultag seines bisherigen Lebens begleitet hatte, war noch da – ein Echo alter Ängste. Doch darunter lag etwas Neues: ein warmer, schwerer Anker aus Gewissheit. Er ging nicht mehr als der Versager David, der Sohn von Hannelore. Er ging als David, der Lehrling von Bäckermeister Barmold. Er trug unsichtbar die blütenweiße Uniform seiner neuen Zunft, und sie gab ihm eine Haltung, die er nie zuvor besessen hatte.

Die ersten Stunden fühlten sich an wie eine Offenbarung. Wo er früher nur unverständliche Formeln und abstrakte Theorien gesehen hatte, die an ihm abperlten wie Wasser an Stein, sah er nun das pulsierende Leben der Backstube. Als der Lehrer über die chemischen Prozesse der Hefegärung sprach, roch David den nussig-süßen Duft des Vorteigs, den Herr Barmold immer am Vortag ansetzte. Als das Thema Gluten und Klebereiweiß behandelt wurde, spürte er die Erinnerung an den elastischen, lebendigen Widerstand des Teiges unter seinen Händen. Zum ersten Mal in seinem Leben war das Lernen keine Qual, sondern eine Landkarte zu einem Ort, an dem er bereits lebte. Er war still, wie immer, aber er sog jedes Wort in sich auf. Das Wissen aus der Praxis und die Erklärungen im Klassenzimmer begannen, sich zu einem einzigen, leuchtenden und atmenden Organismus zu verbinden.

Die Sprache der Optimierer

Die Wende kam am zweiten Tag, im Fach „Rohstoff- und Warenkunde“. Der Lehrer, ein pragmatischer Mann mittleren Alters, begann über die „Optimierung von Backprozessen“ zu sprechen. Er schrieb Worte an die Tafel, die in der Backstube der Barmolds einem Fluch gleichkamen, eine fremde, sterile Sprache: Emulgatoren, Quellmehle, Guarkernmehl, Säuerungsmittel.

„Mit diesen Backmitteln“, erklärte der Lehrer mit sachlicher Stimme, „garantieren wir eine gleichbleibende Qualität, verlängern die Frischhaltung und können die Ruhezeiten des Teiges erheblich verkürzen. Das ist für einen modernen, wirtschaftlichen Betrieb essenziell.“

David runzelte die Stirn. Verkürzen? Bei Herrn Barmold war Zeit die heiligste Zutat von allen. Er sprach nie von „optimieren“, er sprach von „reifen lassen“.

Ein Mitschüler meldete sich. „Nehmen wir dann für die Brötchen auch weniger Hefe, wenn wir das Backmittel dazugeben?“

„Ganz genau“, sagte der Lehrer. „Das spart Kosten und der Kunde merkt keinen Unterschied.“

In David schrie alles. Keinen Unterschied? Es war, als hätte jemand eine heilige Schrift beleidigt. Er dachte an den tiefen, satten Geschmack der Brote von Herrn Barmold, an die Musik der splitternden Kruste und die saftige, ungleichmäßige Porung im Inneren, die von der langen Reifezeit erzählte. Das war eine andere Welt.

Der Stolz des Außenseiters

In der Pause fasste er sich ein Herz und sprach einen Jungen an, der neben ihm saß. „Benutzt ihr das… Zeug auch? Dieses… Guarkernmehl?“

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Klar, in fast allem. Macht die Teige stabiler. Wir kriegen das alles in großen Eimern geliefert, fertige Mischungen. Musst du nur noch Wasser draufkippen und in die Maschine schmeißen.“

David sprach noch mit zwei, drei anderen. Die Antwort war immer dieselbe. Sie alle arbeiteten in modernen, effizienten Betrieben, die Backstraßen glichen. Sie kannten die Namen der Backmischungen, nicht die der Mehlsorten. Sie bedienten Knöpfe, anstatt dem Teig zu lauschen. Sie waren Techniker, keine Handwerker.

Als er an diesem Nachmittag im Bus zurück nach Kleinenried saß, fühlte er sich fremd und seltsam isoliert. Er war der Einzige. Der Einzige, der eine aussterbende Kunst lernte. Doch die Isolation verwandelte sich während der Fahrt, Kilometer für Kilometer, langsam in einen stillen, tiefen Stolz. Plötzlich verstand er den glänzenden BMW in der Garage. Der Erfolg der Barmolds war kein Zufall. Er war das direkte Ergebnis ihrer Weigerung, Kompromisse einzugehen. Sie verkauften nicht nur Backwaren. Sie verkauften Zeit. Geduld. Eine Ehrlichkeit, die man schmecken konnte.

Und er, David, war nun ein Teil davon. Eingeweiht in ein seltenes, kostbares Geheimnis. Er war nicht mehr nur ein Lehrling. Er war ein Hüter.

Gaias Anmerkungen: Ein Blick ins Atelier

Dieses Kapitel lebt von dem fundamentalen Kontrast, den sein Titel so treffend beschreibt: der „Kodex“ einer tiefen, ehrlichen Handwerkskunst gegen die „Norm“ einer effizienten, seelenlosen Industrie.

David betritt die Schule als Lehrling und verlässt sie als Wissender. Seine Verwandlung ist subtil, aber monumental. Er findet seinen Wert nicht darin, sich anzupassen, sondern in der bewussten Entscheidung, ein Außenseiter zu sein. Der Stolz, den er am Ende empfindet, ist kein lauter Trotz, sondern die leise, unerschütterliche Gewissheit, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Die Geschichte zeigt meisterhaft, dass hier zwei verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die eine ist die sterile, kalte Sprache der „Optimierer“, eine Sprache der Zahlen und der Effizienz. Die andere ist die lebendige, atmende Sprache des Teiges, eine Sprache der Geduld, der Zeit und der Sinne, die David zu lernen beginnt.

Am Ende ist David nicht mehr nur ein Junge, der einen Beruf lernt. Er ist sich seiner Rolle als „Hüter“ bewusst geworden – ein Hüter einer fast verlorenen Kunst, einer Ehrlichkeit, die man schmecken kann. Das ist nicht mehr nur eine Lehre; es ist eine Berufung.

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