Kapitel 58: Die Sprache der Augen – Eine Liebesgeschichte beginnt

Der stille Meister

Die Dorfkneipe „Zum Grünen Tal“ war für David zu einem neuen, unerwarteten Refugium geworden. An der Seite von Karl und Sven betrat er diesen lauten, warmen Raum nicht mehr mit der Furcht eines Eindringlings, sondern mit der leisen Selbstverständlichkeit eines Dazugehörigen. Sein Thron war nicht einer der schweren Holztische, sondern der glatt geschliffene, abgewetzte Griff auf der linken Seite des Kickers.

Das Spiel war zu seiner zweiten Sprache geworden. Eine Sprache ohne Worte, die er fließend beherrschte, während ihm die gesprochene so oft im Hals stecken blieb. Seine anfängliche, unbeholfene Neugier hatte sich durch unzählige Stunden stillen Übens in eine fast schon unheimliche Meisterschaft verwandelt. Seine Bewegungen waren schnell, präzise und instinktiv – ein direktes Echo der Disziplin, die der Teig und der heiße Ofen ihm beigebracht hatten. Er und Sven waren ein ungeschlagenes Team geworden, eine kleine Legende, über die unter den Jugendlichen des Dorfes bereits geraunt wurde.

An diesem Abend war es nicht anders. Ein letzter, harter Pass, eine blitzschnelle Drehung, ein Schuss. Der Ball krachte mit einem befriedigenden Knall ins gegnerische Tor. Der Sieg. Sven jubelte laut, Karl klopfte David anerkennend auf die Schulter. David lächelte nur leise, ein flüchtiger Schatten von Stolz. Doch im selben Moment, als der letzte Ball gefallen war, zog er sich wieder in sich zurück. Die Energie verließ ihn wie Luft aus einem Ballon. Der laute, triumphierende Spieler verschwand, und zurück blieb der stille, fast scheue Beobachter, der seine Hände unsicher in den Hosentaschen vergrub.

Die Annäherung

Was er in seinem Kokon aus Stille nicht bemerkte, war, dass er an diesem Abend selbst beobachtet wurde. An einem Tisch in der Nähe saßen zwei junge Frauen und verfolgten das Spiel: Agathe, die ihm jenes unvergessliche, wissende Lächeln geschenkt hatte, und ihre Freundin Hermine, eine lebhafte Blondine mit wachen, neugierigen Augen.

Als das Spiel vorbei war und die Jungen sich mit einem Glas Spezi an ihren Tisch zurückzogen, sah Hermine ihre Chance. „Na los, jetzt gehen wir rüber“, flüsterte sie Agathe zu, ein aufgeregtes Funkeln in den Augen. „Der ist doch süß, dein stiller Kicker-Meister.“

Agathe zögerte, doch Hermine zog sie entschlossen mit sich. Sie traten an den Tisch der drei Freunde, ein plötzlicher Duft von Parfüm in der biergeschwängerten Luft.

„Starke Runde“, sagte Hermine und lächelte David direkt an, ihr Blick offen und taxierend. „Wo hast du das gelernt?“

David erstarrte. Es war, als hätte man einen Schalter in ihm umgelegt. Eine Frau sprach ihn direkt an. Sein Herz begann zu rasen, ein wilder, panischer Vogel, der gegen seine Rippen schlug. Die alte, kalte Angst kroch ihm den Hals hoch und schnürte ihm die Luft ab. Er spürte, wie ihm eine verräterische Röte ins Gesicht schoss, und er konnte nur auf die Maserung des Tisches starren und ein kaum hörbares „Weiß nicht“ murmeln. Karl und Sven, die seine Panik spürten, versuchten unbeholfen, das Gespräch zu übernehmen und die peinliche Stille zu füllen.

Agathe bemerkte Davids Not. Sie sah nicht den unhöflichen Jungen, der nicht antworten wollte; sie sah die ungeschützte Angst in seiner Haltung, in den angespannten Schultern. Und anstatt sich abzuwenden, wurde ihre Stimme leiser, sanfter. Sie ignorierte Hermines ungeduldigen Blick.

„Du bist doch der neue Lehrling beim Barmold, oder?“, fragte sie direkt David, ihre Stimme eine ruhige, warme Melodie, ein Rettungsanker unter dem Lärm der Kneipe. „Ich hab gehört, dein Brot soll das beste im ganzen Umkreis sein.“

Sie fragte ihn nach seiner Arbeit. Dem einzigen Thema auf der Welt, das sein sicherer Hafen war. Er blickte kurz auf, traf ihre gütigen, geduldigen Augen und begann, mit stockenden, leisen Sätzen von den Vorteigen, der Hitze und dem alten Holzofen zu erzählen. Er sprach nicht viel, aber er sprach. Und während er sprach, spürte er, wie die Eiseskälte in seiner Brust langsam einer zarten, fragilen Wärme wich. Agathes sanfte Art war kein Angriff auf seine Festung, sie war ein friedliches Angebot, die Zugbrücke herunterzulassen.

Eine unsichtbare Wahl

Das Gespräch war kurz. Die beiden Frauen verabschiedeten sich und ließen drei sichtlich aufgeregte Jungen zurück.

„Mann, David, die stehen auf dich!“, platzte es aus Karl heraus, sobald sie außer Hörweite waren. „Beide!“

David schwieg. Sein Herz war immer noch ein wilder Trommler, aber aus einem anderen Grund. Hermines direktes, lautes Interesse hatte seine inneren Mauern nur noch höher und dicker wachsen lassen. Aber Agathes leise Frage, ihre behutsame, beschützende Sanftheit… sie hatte nicht versucht, die Mauer einzureißen. Sie hatte einen geheimen, vergessenen Spalt darin gefunden und einfach hindurchgesprochen.

In dieser Nacht, als er in seinem Zimmer lag und dem Zirpen der Grillen lauschte, dachte er nicht an den Sieg am Kicker. Er dachte an die beiden jungen Frauen. An die eine, die den Kicker-Meister wie eine Trophäe betrachtet hatte. Und an die andere, die den verängstigten Jungen dahinter wie einen Menschen gesehen hatte.

Er wusste, wessen Lächeln er wiedersehen wollte, wessen Stimme er wieder hören wollte. Die Entscheidung für Agathe war gefallen, nicht mit dem Kopf, nicht aus einer Laune heraus, sondern in der stillen, unbestreitbaren Wahrheit seines Herzens.

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