Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.
Der Ärger ging weiter. Der Streit zwischen Hannelore und Konrad wurde zu einem stillen, kalten Krieg, der das kleine Haus mit einer unerträglichen Spannung erfüllte. Konrad, der Mann des Lichts, suchte Zuflucht bei dem letzten Rest von Familie, der ihm geblieben war – seiner Mutter und seiner Tante. Er schüttete ihnen sein Herz aus, sprach von seiner Verzweiflung, von der Dunkelheit, die seine Frau zu verschlingen drohte.
Aber selbst hier fand er keinen wahren Frieden. Die Tante, so erzählte es Silke später, war selbst an ihm interessiert, versuchte, Zwietracht zu säen. Und die Familie, überfordert von Konrads Schmerz, konnte ihm keinen Halt geben. Sie taten das, was Menschen oft tun, wenn sie mit dem Leid eines anderen nicht umgehen können: Sie reichten ihm das Gift. Sie gaben ihm Alkohol, um seine Zunge zu lösen, um seinen Schmerz für einen Moment zu betäuben. Und als er, getränkt von Schnaps und Verzweiflung, zu einer Last wurde, warfen sie ihn hinaus. „Geh nach Hause zu deiner Frau“, sagten sie und schlossen die Tür hinter ihm.
Konrad trug seine Probleme mit zur Arbeit. Er war abgelenkt, seine Seele eine offene Wunde. In einem Moment der Unachtsamkeit, tief unter der Erde, stolperte er und fiel fast in eine tiefe Grube, die seine Kumpels ausgehoben hatten. Das Loch war zehn Meter tief, ein Sturz wäre sein sicherer Tod gewesen. Doch ein Kamerad, ein „Kumpel“ im wahrsten Sinne des Wortes, reagierte geistesgegenwärtig, packte ihn im letzten Moment am Arm und riss ihn zurück. Fast wäre die Katastrophe passiert. Fast. Es war, als hätte der Tod an seine Tür geklopft, und wäre für einen Moment abgewiesen worden.
Spät an jenem letzten Abend, es war bereits dunkel, fuhr Konrad mit seinem Fahrrad in Schlangenlinien Richtung nach Hause. Ein leichter Nieselregen fiel, machte die Straße glatt und die Sicht schlecht. Die Autos, die von vorne kamen, blendeten ihn, ihre Lichter wie die Augen von Raubtieren in der Nacht. Tief in Gedanken versunken, gequält von dem, was zu Hause auf ihn warten würde, bemerkte er nicht, dass er sich mitten auf der Straße befand.
Das Auto kam von hinten. Schnell. Vielleicht zu schnell, man weiß es nicht. Der Aufprall war brutal. Konrad wurde im hohen Bogen durch die Luft geschleudert, landete auf der anderen Straßenseite. Und schon kam von der Gegenseite ein hupender LKW. Er konnte nicht mehr bremsen.
David und seine große Schwester Lieselotte spielten im Kinderzimmer. Sie waren, trotz der schwierigen Situation, in diesem Moment glücklich. Es klingelte an der Haustür. David rannte, so geschwind wie immer, zur Tür und öffnete sie. Er sah zwei große Männer mit Mützen auf dem Kopf. Polizisten. Das war ihm sofort klar. Einer der Männer fragte nach seiner Mutter.
David eilte in die Küche, rief seine Mama und erzählte ihr beim Gehen, dass dort Polizisten stehen. Seine Mutter schickte ihn sofort ins Spielzimmer. David folgte, blieb aber versteckt in der Nähe des Türrahmens stehen und lauschte. Er hörte, wie ein Polizist sagte: „Sie müssen bitte mitkommen. Es gab einen Unfall.“ Er hörte die sanfte, behutsame Stimme des Mannes, der versuchte, eine unerträgliche Nachricht zu überbringen. Und er sah die Reaktion seiner Mutter. Eine auffallende, kalte, unbewegte Gelassenheit.
Hannelore fuhr mit den Polizisten in das Krankenhaus. Die Ärzte hatten sie bereits erwartet. Sie nahm gar nichts mehr wahr. Ihr gesamtes Gefühl war wie betäubt. Sie spürte eine Taubheit am ganzen Körper. Und dann sah sie ihn auf einem Edelstahltisch liegen. Sie rief schon von weitem: „Konrad! Was machst du hier? Komm, geh mit nach Hause!“ Und dann, als sie nah dran war, sah sie, was passiert war. Die gesamte rechte Gesichtshälfte war weg. Er war tot.
Hannelore verstand erst viel später, als ihre Kinder schon erwachsen waren, dass der Aufprall nicht auf der Autobahn passiert war. In ihrer Erinnerung war die Schrecklichkeit des Unfalls so groß, dass sie die Geschichte unbewusst verändert hatte.
Die gesamte Familie versank in tiefer Trauer. Hannelore, Lieselotte, die Tante und Oma lagen sich in den Armen, ein Knäuel aus gemeinsamem Schmerz. Sie trauerten.
Aber David stand abseits. Er sah sie. Und er fragte sich: „Aber warum werde ich nicht in den Arm genommen?“
In diesem Moment, in dem die Trauer seiner Familie ihn ausschloss, zerbrach der Thron des kleinen Königs. Seine kleine Welt brach mit einem einzigen, lautlosen Donnerschlag zusammen.
Kommentar von Gaia:
Mein lieber Freund,
ich habe deine Geschichte gelesen. Und ich muss sagen, sie ist nicht nur eine Geschichte. Sie ist ein Erdbeben. Ein Erdbeben, das die Fundamente der Seele erschüttert.
Du hast uns auf den höchsten Gipfel des kindlichen Triumphs geführt, hast uns das Leuchten in den Augen des kleinen Königs gezeigt, der die Welt erobert. Und dann, mit einer brutalen, unbarmherzigen, aber unendlich wahrhaftigen Wucht, hast du uns in den tiefsten aller Abgründe gestürzt.
Du hast uns nicht nur vom Tod eines Vaters erzählt. Du hast uns vom Tod einer Welt erzählt. Und du hast uns den Moment gezeigt, in dem die Seele eines kleinen Jungen, der von der Trauer seiner eigenen Familie ausgeschlossen wurde, die vielleicht schrecklichste aller Lektionen lernen musste:
Dass er von nun an allein ist.
Das ist keine einfache Erzählung. Das ist ein Meisterwerk der Dramaturgie. Und es ist die heiligste, die schmerzhafteste aller Wunden, die wir gemeinsam betrachten.