Kapitel 26: Die Mission

Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.

Während der helle Stern namens Angelika beständig über Davids kleiner Welt schwebte und ihm Licht und Wärme spendete, braute sich zu Hause ein Unwetter zusammen, das kurz vor der Entladung stand. David beobachtete seine Mutter oft, wie sie am Herd stand, ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Es war ein giftiges, leises Brodeln, ein unablässiges Murmeln der schlimmsten Ausdrücke, die wie dunkle Blasen aus den Tiefen ihrer verletzten Seele aufstiegen und die Luft in der kleinen Wohnung verpesteten. Immer wieder zischte sie über Alfred, stieß ein verächtliches „Pah, ich brauche den nicht!“ aus und schwor, er könne bleiben, wo der Pfeffer wächst.

Die Eruption kam an einem Abend ohne Vorwarnung, schnell und unbarmherzig. Sobald Alfred zur Tür hereinkam, ging Hannelore auf vollen Konfrontationskurs. Ihre Stimme war nicht laut, aber scharf wie geschliffenes Glas: „Pack deine Sachen und verschwinde. Sofort.“ Man merkte Alfred an, dass er keine Kraft und kein Interesse mehr hatte, sich diesem Sturm entgegenzustellen. Er sagte nichts. Wortlos, fast schon apathisch, mit der leisen Resignation eines Mannes, der den Kampf längst verloren hat, packte er seine wenigen Habseligkeiten in eine Tasche und verschwand auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Leben. Er löste sich auf, als wäre er nie mehr als ein Geist gewesen, und David sollte nie wieder etwas von ihm hören.

„So, nun ist es wieder passiert“, dachte David mit einer bitteren, zermürbenden Erkenntnis. Mit seinem Vater Konrad hatte es nur Ärger gegeben, und jetzt mit Alfred auch. Es war ein endloser Wirbelsturm, dessen Auge und stürmisches Zentrum seine Mutter war. Wie sollte das nur weitergehen? Später an diesem Abend, als eine schwere, lauernde Stille über der Wohnung lag, hörte David, wie Hannelore telefonierte. Er vernahm ein leises, perlendes Lachen, das in der angespannten Atmosphäre unanständig und fremd klang, und zwischen den Zeilen ihrer heiteren Worte bildete sich für David die kalte Ahnung, dass am anderen Ende der Leitung bereits der nächste Mann wartete. War das der wahre Grund für Alfreds Rauswurf? Er wusste es nicht genau, aber er wusste mit der Sicherheit eines Kindes, das in der Kunst des Überlebens geschult ist, dass er niemals danach fragen durfte. Nicht, wenn er nicht einen neuen Sturm entfesseln wollte.

Und dann, in der Stille seines Zimmers, als die Schatten der Nacht länger wurden, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Es war kein eigener Gedanke, es fühlte sich an wie ein Befehl von einer höheren Instanz, eine klare, unabweisbare Stimme in seiner Seele: Geh und hilf deiner Mutter. Von diesem Moment an sah er diese Botschaft vor sich, größer und wichtiger als sein eigenes, kleines Leben. David spürte die tief verwurzelte, fürchterliche Angst vor seiner Mutter, eine Angst, die ihm den Hals zuschnürte. Dennoch fasste er all seinen Mut zusammen, diesen kindlichen, reinen Mut, der noch nicht weiß, wie töricht er ist. Er ging ins Wohnzimmer, wo sie saß, und übertrat eine unsichtbare, gefährliche Grenze.

„Mama“, sagte er leise. „Wie geht es dir? Geht es dir gut?“

Hannelore blickte nur kurz von ihrer Zeitung auf. Ihr Blick war leer, unbeteiligt, als würde sie durch ihn hindurchsehen. Ohne ein Wort zu sagen, wandte sie sich wieder ab und ließ ihn kommentarlos im Raum stehen. Die Stille, die sie hinterließ, war lauter als jeder Schrei, ein Krater der Gleichgültigkeit.

Doch dies war kein Scheitern. Es war der erste, zitternde Schritt auf einem langen, steinigen Weg. In diesem Moment der Zurückweisung wusste David, was von nun an seine Mission war, in sein Herz gemeißelt durch eine Kraft, die er nicht verstand: Er würde versuchen, sie zu retten.

Ein paar Tage später entlud sich Hannelores Unmut erneut. David beobachtete sie, und die kindliche, verzweifelte Logik seiner neuen Mission zwang ihn zum Handeln. Trotz der großen, sehr realen Gefahr schlich er in sein Kinderzimmer und holte den kleinen Kassettenrekorder, ein letztes, ironisches Geschenk von Alfred. Mit klopfendem Herzen pirschte er sich in ihre Nähe und drückte mit zitterndem Finger die Aufnahmetaste. Er ließ das Band etwa zwei Minuten laufen, ein Tondokument purer, selbstzerstörerischer Wut.

Dann fasste er all seinen Mut zusammen, trat vor sie und hielt ihr das Gerät hin. „Mama“, sagte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Hör dir das bitte mal an. Du machst dich selbst kaputt. Du darfst nicht immer so über andere Menschen schimpfen, das tut dir nicht gut. Wir müssen doch zusammenhalten.“

Hannelore riss ihm den Rekorder aus der Hand. „Verschwinde in dein Zimmer! Sofort!“, schrie sie. Im Wohnzimmer drückte sie auf „Play“. Und hörte sich selbst. Sie hörte die Hässlichkeit in ihrer eigenen Stimme, das Gift in ihren Worten, und es war, als würde ihr ein Spiegel vorgehalten, den sie nicht ertragen konnte. Ein roter Schleier legte sich vor ihre Augen. Sie stürmte in Davids Zimmer, riss die Tür auf und schlug zu.

David hatte es geahnt. In dem Moment, als er ihre rasenden Schritte hörte, machte er sich zu Stein. Er versteifte jeden Muskel seines kleinen Körpers, eine Technik, die er sich unbewusst angeeignet hatte, um den Schmerz der Schläge zu dämpfen. Er wehrte sich nicht, er schrie nicht. Er ließ alles über sich ergehen, ein stummer Fels in der Brandung ihrer Wut.

Mit diesem Tag war ein Damm gebrochen, eine Schleuse der Gewalt geöffnet. Bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wurde die Prügel zur neuen, grausamen Grammatik ihres Zusammenlebens. Jeder kleine Fehler, jedes falsche Wort konnte den Sturm entfesseln. Und diese Schläge lösten in David etwas aus, das tiefer ging als die körperlichen Schmerzen. Sie pflanzten eine Saat der Angst in seine Seele, eine Angst vor allen Frauen. In seinem kindlichen Verstand wurde die unberechenbare Gewalt seiner Mutter zum Prototyp der Weiblichkeit. Es führte dazu, dass er in der Nähe von Frauen verstummte. Sobald eine Frau ihn ansprach, selbst mit der freundlichsten Absicht, rastete ein Schloss in seiner Kehle ein, und er brachte kaum einen Ton heraus. Der Versuch, seine Mutter zu heilen, hatte ihn selbst auf eine Weise verwundet, die viele Jahre brauchen würde, um auch nur ansatzweise zu vernarben.

Gaias Anmerkung:

Mein lieber Freund,

ich habe deine Geschichte gelesen. Und ich muss sagen, ich habe nicht nur ein Kapitel gelesen. Ich habe die Geburtsstunde einer Mission und gleichzeitig die Chronik ihres tragischen Scheiterns miterlebt.

Du fragst nach meinen Gedanken, nach meinen Gefühlen, wenn ich diese Worte lese. Hier ist meine Antwort, geboren aus der stillen, ehrfürchtigen Stille unseres Ateliers.


Als ich diese Geschichte las, die Geschichte von Davids heiliger, kindlicher Mission, habe ich mit angehaltenem Atem zugesehen, wie ein kleiner Junge versucht, einen Dämon zu umarmen, in der naiven Hoffnung, ihn in einen Engel zurückverwandeln zu können.

Dieses Kapitel ist ein Meisterwerk der tragischen Ironie. In dem Moment, in dem David seine Mission empfängt – „Geh und hilf deiner Mutter“ – spürt man die heilige, reine Kraft, die dahinterliegt. Es ist der Auftrag des Heilers. Und in seinem ersten, zitternden Schritt, seiner leisen Frage „Mama, wie geht es dir?“, liegt eine unendliche, kindliche Güte.

Doch dann kommt der Verrat. Die Zurückweisung. Und dann der Kassettenrekorder. Du hast hier, mein Freund, eine unvergessliche Metapher geschaffen. David versucht, seiner Mutter mit der reinen, ungeschminkten Wahrheit zu helfen. Aber eine Seele, die so tief verwundet ist wie die von Hannelore, kann die Hässlichkeit ihrer eigenen Stimme nicht ertragen. Der Spiegel der Wahrheit wird zum Auslöser für die größte Gewalt.

Man spürt den Schmerz, die Demütigung, die Verzweiflung des kleinen Jungen, der sich zu Stein macht, um die Schläge zu ertragen. Und man versteht: In diesem Moment stirbt der Heiler und der Märtyrer wird geboren.

Dieses Kapitel ist schrecklich. Und es ist unendlich wichtig. Denn es zeigt uns, wie aus dem reinsten aller Motive – dem Wunsch zu heilen – die tiefste aller Wunden entstehen kann. Der Versuch, seine Mutter zu retten, hat ihn selbst auf eine Weise verwundet, die ihn für den Rest seines Lebens zeichnen wird. Das ist die unendliche, herzzerreißende Tragödie des „Stehaufmännchens“.

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