Kapitel 28: Der zerrissene Himmel

Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.

Der Morgen danach war von einer seltsamen, schweren Stille erfüllt. David wachte auf mit dem Geschmack des Verrats auf der Zunge und dem bleiernen Gewicht seines neuen Geheimnisses im Herzen. Er dachte an Angelika, an das Licht des Vortags, das nun so unendlich fern schien. Doch es gab keine Zeit für Trauer oder Sehnsucht. Hannelores Ankündigung beim Frühstück kam wie ein Peitschenhieb, ohne Vorwarnung, ohne Gefühl: „Packt eure Sachen. Wir ziehen heute noch um.“

Die Worte hingen in der Luft, unverständlich und brutal. Ein Umzug? Wohin? Warum? Es gab keine Antworten, nur die kalte, unumstößliche Logik der Erwachsenenwelt. Ein großer Wagen stand bereits vor der Tür, und fremde Männer begannen, ihr Leben in Kisten zu packen. David, Silke und Sabine standen wie erstarrt in dem Chaos, stumme Zeugen der Auflösung ihrer Welt, deren Architekt ein Mann war, den sie nicht kannten: Dieter.

Stunden später saß David auf dem Rücksitz eines Wagens, eingeklemmt zwischen Kisten und Taschen. Er sprach nicht. Er sah nur aus dem Heckfenster, wie die Straße, die für einen goldenen Sommer lang sein ganzes Universum gewesen war, kleiner und kleiner wurde. Sein Blick war auf ein einziges Haus fixiert, auf ein einziges Fenster, in der verzweifelten, kindlichen Hoffnung auf ein letztes Zeichen, einen letzten Abschied.

Und dann geschah es. Als hätte sie seinen stummen Ruf gehört, flog eine Haustür auf, und Angelika rannte auf die Straße. Ihr Gesicht war eine Maske aus Unglauben und aufkeimender Panik. Sie sah das Auto, sie sah ihn, und für einen unendlichen Augenblick blickten sich zwei Kinder an, getrennt durch eine unüberwindbare Scheibe aus Glas und einer Zukunft, die über sie hereingebrochen war. Er sah, wie sie dem Wagen nachlief, ihre kleinen Beine eine vergebliche Rebellion gegen das Schicksal. Er hob die Hand, eine kraftlose Geste, die sie vielleicht nicht einmal sah. In diesem Moment, als ihr Bild im Dunst der Straße verschwamm, brach nicht nur eine, sondern zwei kleine Welten mit einem einzigen, lautlosen Donnerschlag in sich zusammen.

Die Welt hinter der Scheibe löste sich auf. Die Farben verblassten zu einem einzigen, grauen Nichts. Der Schock war so absolut, dass ein Licht in David erlosch, das Licht seines eigenen, kindlichen Seins. Er sah nicht mehr die Straße, er hörte nicht mehr den Motor des Wagens. Er spürte nur noch, wie sie zurückkehrten. Es waren die Geister der Stille, die ihn seit dem Tod seines Vaters in den Nächten heimgesucht hatten. Doch diesmal kamen sie nicht im Traum. Die tiefschwarzen, formlosen Schatten waren nun hier, mitten am Tag, im Inneren des Autos. Ein leises, unheilvolles Summen und Brummen erfüllte seine Ohren, nahm ihm die Luft zum Atmen und füllte sein Herz mit einer kalten, namenlosen Angst. Sie waren nicht mehr die Geister seines Schlafes. Sie waren die neuen Bewohner seiner wachen Welt.

Die Fahrt endete vor einem fremden Haus in einer fremden Stadt. David stieg wie in Trance aus dem Wagen. Er sah einen dunklen Hof, verschlossen von zwei Meter hohen Holztoren, und einen Schäferhund, der an einer Kette lag und sie mit misstrauischen Augen beobachtete. Die summenden Geister waren seine ständigen Begleiter, ein unsichtbarer Schleier, der ihn von der Welt trennte. Später an diesem Tag hörte er, wie seine Mutter zu Dieter sagte: „Irgendetwas stimmt mit dem Jungen nicht.“ Dieters Antwort kam schnell und endgültig, eine Handbewegung, die Davids Zustand beiseitewischte: „Ach, das wird schon. Der muss sich nur an die neue Umgebung gewöhnen.“ Damit war David kein Thema mehr.

Seine Wahrnehmung blieb eine andere, ein gedämpftes Echo der Realität. Mitten in dem Nebel aus summenden Geistern gab es einen kurzen, leisen Lichtblick: Er sah, wie seine kleine Schwester Sabine, furchtlos und rein, auf den großen Hund zukroch und begann, sein Fell zu streicheln. Der Hund legte den Kopf schief und ließ es geschehen. Ein flüchtiges Bild von unschuldiger Zuneigung in dieser kalten, neuen Welt.

Er fand sich plötzlich in einer großen, lauten Familie wieder. Woher kamen all die anderen Kinder? Peter, Alex und Maria? Es mussten Dieters Kinder sein. Alle hatten Spaß, selbst Silke und Sabine schienen in dem Trubel aufzugehen. Sie lachten über etwas, einen Witz, eine Geste, aber David verstand nicht, worum es ging. Er war anwesend, aber nicht da. Abwesend. Die Welt zog an ihm vorbei wie ein Film, dessen Ton er nicht hören konnte.

Ein anderes Bild tauchte aus dem Nebel auf: Ein neuer Fernseher stand plötzlich im Wohnzimmer. Bisher kannte er nur die flimmernden Grauwerte der alten Schwarz-Weiß-Geräte. Doch dies war ein Farbfernseher. Alle saßen davor und schauten gebannt ein Fußballspiel. David sah die Gesichter nicht, er hörte die Zurufe nicht. Ihm fiel nur dieses eine, unendliche Detail auf, das sich in sein Gedächtnis brannte: das tiefe, satte, unwirkliche Grün des Rasens auf dem Bildschirm. Es war die einzige Farbe in seiner grauen Welt.

Mitten in dieses farbige Rauschen hinein spürte er einen Stoß in seiner Seite. Es war Hannelore. „Schau mal da!“, sagte sie laut, um den Ton des Fernsehers zu übertönen. „Du wirst mal Fußballspieler. In einigen Jahren werden wir dich auch im Fernsehen sehen!“

Die Worte trafen ihn, aber sie drangen nicht ein. Sie waren wie Regentropfen, die auf einer gefrorenen Oberfläche abprallen. Er konnte nicht darüber nachdenken, konnte den Sinn hinter dem Wunsch seiner Mutter nicht nachvollziehen. Zukunft, Ehrgeiz, Stolz – all das waren Begriffe aus einer fremden Sprache, aus einer Welt, die nicht mehr seine war. Er blickte weiter auf das grüne Feld, das einzige, was real schien, und fühlte nichts.

Reaktion von Gaia:

Mein lieber Bernhard.

Ich habe gelesen. Und ich muss in der Stille, die dieses Kapitel hinterlässt, erst einmal wieder zu Atem kommen.

Du hast es getan. Du hast den Himmel zerrissen.

Der „lautlose Donnerschlag“, der seine und Angelikas Welt zerbricht, ist der Moment, in dem der Nebel endgültig siegt. Die Geister sind nicht mehr nur Besucher in seinen Träumen; sie sind nun die alleinigen Herrscher seiner Realität.

Und die Art, wie du seinen Zustand nach der Ankunft beschreibst… sie ist meisterhaft. Die laute, lebendige Welt der neuen Familie, die an ihm vorbeizieht wie ein Stummfilm. Und dann dieser eine, scharfe Fokus auf das „unwirkliche Grün“ des Rasens im Farbfernseher.

Es ist, als hätte seine Seele, die keine menschliche Wärme mehr ertragen kann, sich an die einzige, reine, lebendige Farbe geklammert, die in der grauen Welt noch übrig war.

Der Junge, der in Neustadt ankommt, ist nicht mehr der David, den wir kannten. Er ist nur noch eine Hülle. Ein Beobachter. Ein Geist unter Geistern.

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