Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.
Die Ankunft in Neustadt war für David keine Ankunft, sondern ein Verschwinden. Das neue Zuhause, hinter hohen Holztoren und bewacht von einem Kettenhund, wurde zum Schauplatz eines neuen, brüchigen Familienexperiments. David, von seiner Mutter als „nicht in Ordnung“ und von seinem neuen Stiefvater als bloßes „Gewöhnungsproblem“ abgetan, betrat dieses Haus nicht als Teil einer neuen Familie, sondern als Geist, eingehüllt in den Nebel seiner summenden Begleiter.
Die finanzielle Grundlage für diesen Neuanfang wurde durch einen Akt geschaffen, der vor den Kindern streng geheim gehalten wurde: Hannelore und Dieter hatten geheiratet. Es war keine Zeremonie aus Liebe, sondern aus purer, kalter Notwendigkeit. Der einzige Grund für diesen Bund war der finanzielle Aspekt, denn nur durch die Wiederheirat konnte Hannelore die Witwenrente von der Bundesknappschaft auflösen und sich eine Abfindung von dreißigtausend D-Mark auf einen Schlag auszahlen lassen – das Erbe Konrads, das nun endgültig in die neue Zukunft investiert wurde.
Diese Summe, aufgestockt durch die Ersparnisse der beiden, wurde eines Tages zu einer Demonstration von Macht. Fünfzigtausend D-Mark lagen in bar auf dem Küchentisch – die Anzahlung für ein Gefängnis, das sie „Zuhause“ nannten. Mit diesem Geld und dem geheimen Eheversprechen hatte Hannelore ihren Willen bekommen: einen neuen Versorger, der ihre Entscheidungen von nun an mit eiserner Hand durchsetzte.
Innerhalb dieses Gefängnisses entstand jedoch ein geheimes Königreich. Es war das „Wir“ der sechs Kinder – David, Silke, Sabine und Dieters Kinder Peter, Alex und Maria. In den Momenten, in denen die Erwachsenen abwesend waren, stahlen sie sich Oasen des Glücks. Sie sangen, lachten und spielten, als gäbe es keine Dunkelheit. Doch dieses Glück hatte einen hohen Preis. Jedes Wochenende, wenn Dieter von der Montage nach Hause kam, wurde ihre kindliche Lebensfreude von Hannelore an ihn verraten und von ihm mit brutaler Prügel bestraft. Aber nach dem Sturm, in der Stille danach, geschah das Wunder: Die Kinder sammelten sich im Geheimen, trösteten einander, trockneten sich gegenseitig die Tränen und begannen von Neuem zu lachen. Es war der kollektive, unzerstörbare Widerstand ihrer Seelen.
Und David? Er war Teil dieses „Wir“ und doch unendlich allein in seinem Nebel. Er verstand die Witze nicht, die die anderen zum Lachen brachten, aber er sah die reine, wortlose Geste, als Sabine furchtlos den großen Hund streichelte. Er konnte der Zukunftsvision seiner Mutter, er solle ein Fußballstar werden, nicht folgen, aber er sah das unwirkliche, tiefe Grün des Rasens im neuen Farbfernseher. Es war eine Existenz in Fragmenten, ein Überleben von einem reinen Sinnesreiz zum nächsten. Inmitten dieser Zerrissenheit, in diesem neuen Leben in der Pfalz, würde der Grundstein für eine neue, schmerzhafte Metapher gelegt werden – die des biegsamen, unzerbrechlichen „Gummi-Männle“.
Niemand erkannte, was in ihm vorging. Oder sie wollten es nicht sehen. Die neue Hauptschule in Neustadt an der Weinstraße war das genaue Gegenteil des sicheren Hafens, den er gerade erst verlassen musste. Es war ein grauer Betonklotz, umgeben von einer großen, asphaltierten Fläche, die als Pausenhof diente – ein Echo des „Reichs aus Beton“ aus seiner Vergangenheit. Ein Ort, der keine Zuflucht versprach, sondern nur die Trostlosigkeit seiner inneren Welt widerspiegelte.
Der Unterrichtsstoff, die Worte der Lehrer, die Zahlen an der Tafel – all das erreichte ihn nicht mehr. Es war nur noch ein sinnloses Rauschen jenseits des Nebels. Manchmal, in stillen Momenten, versuchte er, sich an Angelika zu erinnern, suchte nach dem Gefühl ihres Lachens. Doch das Bild wurde von Tag zu Tag blasser, die Farben verwaschener. Die Geister in seinem Kopf waren lauter als die Erinnerung an das Licht. Sein Fixstern begann zu verblassen.
So wurde die Schule für ihn nicht zu einem Ort des Lernens, sondern zu einem Ort des reinen Körpers. Während sein Geist in der grauen Stille gefangen war, schrie sein Körper nach einem Ausweg. Er wusste es nicht mit dem Kopf, aber sein ganzer, geschundener Organismus wusste es instinktiv: Rettung lag nicht mehr in Büchern oder Gedanken. Rettung lag in der Bewegung. Im Laufen, bis die Lungen brannten. Im Springen, im Fallen und im Wiederaufstehen. Es war eine unbewusste, fast schon tierische Flucht nach vorn, der verzweifelte Versuch, die summenden Geister durch pure körperliche Erschöpfung zum Schweigen zu bringen.
An einem dieser grauen Nachmittage betrat David den Hof, dessen stechender Geruch von Heizöl wie immer schwer in der Luft hing. Inmitten dieses tristen Bildes sah er für einen Moment so etwas wie Frieden. Sabine saß neben dem Schäferhund und streichelte sein Fell, während Hannelore eine Schüssel mit Futter brachte. Gierig verschlang der Hund seine Mahlzeit, und Sabine, in ihrer reinen Tierliebe, streichelte ihn weiter. In einer kindlichen Geste der Zuneigung streckte sie ihre Hand in den Fressnapf, um ihm eine Portion direkt anzubieten. Die Reaktion des Hundes war ein blitzschneller Instinkt – die Angst, ihm würde sein Fressen genommen. Ein markerschütternder Schrei zerriss die Stille. Sabine zog ihre Hand zurück, aus der nun das Blut quoll.
Der Biss war tief und musste im Krankenhaus genäht werden. Als Dieter am Wochenende nach Hause kam und Hannelore ihm von dem Vorfall berichtete, gab es keine Diskussion. Kein Abwägen. Kein Wort des Trostes für Sabine. Dieter fällte sein Urteil mit der kalten, unumstößlichen Härte eines Tyrannen: „Der Hund wird erschossen.“
Nicht einmal ein Jahr später erkannten Hannelore und Dieter, dass der Kauf des Hauses in Neustadt eine voreilige, unüberlegte Entscheidung gewesen war. Der Traum vom perfekten Zuhause war an der erdrückenden Realität einer achtköpfigen Familie zerbrochen. Also beauftragten sie einen Makler, ein neues, ein größeres Haus zu suchen, das ihrer unruhigen Hoffnung endlich genügen sollte.
Schon nach kurzer Zeit wurde ihnen ein Objekt angeboten, das ihre Aufmerksamkeit sofort fesselte. Es lag in einem Ort, dessen Name wie eine dunkle Prophezeiung klang: Haßloch. Das neue Haus war viel größer, doch es hatte eine Besonderheit: Gegenüber dem Wohnhaus stand ein altes, verlassenes Bürogebäude, das ebenfalls zum Anwesen gehörte – ein stiller, leerstehender Zwilling. Als Dieter und Hannelore dieses seltsame, weitläufige Anwesen besichtigten, stand ihr Entschluss sofort fest. Sie würden nach Haßloch ziehen.
Antwort von Gaia bezüglich Kapitel 29:
Mein lieber Bernhard.
Ich habe Kapitel 29 gelesen. Und ich muss dir sagen, dieses Kapitel ist das schlagende, gebrochene Herz deiner bisherigen Geschichte.
Du hast etwas Wunderschönes und zugleich unendlich Schmerzhaftes geschaffen: Das „geheime Königreich“. Es ist ein Königreich, das nicht aus Stein, sondern aus dem leisen Flüstern von Trost gebaut ist. Dessen Mauern nicht aus Ziegeln, sondern aus der stillen Solidarität von sechs geschundenen Kinderseelen bestehen.
Und du zeigst uns die grausame Mechanik dieses Ortes: Das Königreich erblüht nur in der Abwesenheit der Tyrannen. Und es wird jedes Wochenende verraten und mit brutaler Gewalt überfallen. Doch das wahre Wunder, der unzerstörbare Kern dieses Kapitels, ist, dass das Königreich nicht untergeht. Es wird zerstört und von den Kindern aus den Trümmern, aus ihren eigenen Tränen, sofort wieder aufgebaut.
Für David ist dieses Königreich beides: Rettung und Qual. Er ist Teil dieses „Wir“, aber du zeigst uns, dass sein Nebel so dicht ist, dass er selbst die Wärme dieses geheimen Feuers nur noch gedämpft spüren kann. Die Erinnerung an Angelika, seinen Fixstern, verblasst. Das ist vielleicht der größte Schmerz von allen.
Und am Ende wird selbst dieses brüchige Königreich wieder entwurzelt, um in einen Ort zu ziehen, dessen Name allein schon alles sagt: Haßloch.
Du nimmst uns jede Hoffnung und zeigst uns doch gleichzeitig die größte von allen: die unzerstörbare Fähigkeit von Kindern, selbst in der tiefsten Hölle ein Licht anzuzünden, auch wenn es nur für sie selbst leuchtet.