Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.
Die Berührung des weichen Kaninchenfells unter seinen Fingern war es, die die Erinnerung wie einen elektrischen Schlag durch seinen Körper jagte. Er dachte an den kleinen Pudel, der in der grauen Betonwüste für einen kurzen, heiligen Moment so etwas wie Glück bedeutet hatte. Babsi war nicht nur ein Hund gewesen; er war ein echtes, geliebtes Familienmitglied, der warmherzige Mittelpunkt ihres „geheimen Königreichs“, der Sabine mit seiner bedingungslosen Zuneigung zurück ins Leben geleckt hatte. Die Erinnerung an ihn traf David mit der Wucht einer Lawine, und mit ihr die Frage, die aus den Tiefen seines Nebels emporstieg: Wo ist Babsi?
Er konnte sich nicht erinnern, wann er den kleinen Pudel zuletzt gesehen hatte, wann er sein freudiges Hecheln zuletzt gehört hatte. Mit einem kalten Knoten im Magen suchte er Silke. Seine Frage war nur ein Flüstern: „Wo ist der Hund?“ Silke blickte auf, ihre Augen voller Mitleid und Angst vor der Wahrheit, die sie aussprechen musste. „Babsi ist im Nachbardorf“, sagte sie leise. „Er hat eine neue Familie.“ David starrte sie an, verstand nicht. „Warum?“, fragte er. Silkes Stimme brach fast. „Dieter hat gesagt, er kann nicht mit. Er hat gesagt, wir haben schon einen Schäferhund und ein Hund ist zum Bewachen da, nicht als Spielzeug.“ In diesem Moment spürte David etwas Neues in sich. Es war noch nicht Hass, nicht in der Form, wie ein Erwachsener ihn kennt. Es war etwas Ursprünglicheres: der erste, dunkle Keim des Hasses, ein winziger, glühender Splitter, der sich an diesem Tag tief in sein Herz bohrte.
Kurz darauf stand er vor seinem Stiefvater und fühlte sich wie ein Angeklagter vor seinem Richter. Mit einer angewiderten Geste deutete Dieter auf die Ställe. „Du bist von nun an für die Kaninchenfütterung zuständig“, sagte er, und seine Stimme war so kalt wie das Eisen der Stalltüren. Die Aufgaben wurden ihm wie Befehle erteilt, eine Litanei der Knechtschaft, die er sich mit Peter teilen sollte. Die Wasserflaschen, deren Röhrchen wie metallene Zungen in die Käfige ragten, mussten immer voll sein. Das Trockenfutter musste aus den schweren 25-Kilo-Säcken portioniert werden, die seine kleinen Arme kaum heben konnten. Jeden Tag musste er auf der großen Wiese knien und frischen Löwenzahn stechen, bis seine Finger wund waren. Und dann die schlimmste Arbeit: das Ausmisten. Mit einer Kelle, die Dieter ihm in die Hand drückte, musste er den feuchten, stinkenden Dreck der Tiere aus den Ställen schaben und in die nahegelegene Mistkuhle werfen. Dieter beendete seine Einweisung mit einer Drohung: „Zeig das alles Peter. Und wehe, es wird nicht ordentlich gemacht! Verstanden?“ David nickte nur, unfähig zu sprechen.
Und doch, in dieser auferlegten Sklaverei, geschah ein Wunder. Nachdem der Dreck beseitigt war, gehörte es zu seinen Aufgaben, eine dicke, frische Schicht Stroh in den sauberen Ställen auszubreiten. Sobald das goldene, duftende Stroh den Boden bedeckte, begannen die Kaninchen darauf herumzuhüpfen. Sie vollführten kleine, freudige Sprünge und gruben ihre Nasen in die frische Einstreu. Als David das sah, spürte er einen warmen Stich in seiner Brust. Es war nicht nur Freude. Es war ein tiefes, heilendes Gefühl. Zu sehen, dass seine mühsame, schmutzige Arbeit direkt in das sichtbare Glück eines anderen Lebewesens mündete, war eine Offenbarung. In diesem Augenblick war er nicht der Befehlsempfänger seines Stiefvaters. Er war der Bringer von Trost und Sauberkeit. Und das berührte ihn zutiefst, ein neues, winziges Geheimnis in seinem Herzen.
Als er Peter, der die gleiche Angst in den Augen trug, an seiner Seite hatte, wurde die Arbeit leichter. Gemeinsam schleppten sie die Säcke, gemeinsam knieten sie im Gras. Und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit spürte David wieder Freude. Es war die stille Freude, die er empfand, wenn er sah, wie die kleinen, zitternden Kaninchen ihm den Löwenzahn gierig aus den Fingern rissen. Er und Peter sprachen nicht viel, aber sie teilten ein Lächeln, eine Geste, eine stille Komplizenschaft. Es war eine neue Form des „geheimen Königreichs“, geboren aus gemeinsamer Verantwortung und dem Staunen darüber, wie schnell das Leben in den Käfigen wuchs.
An den Wochenenden jedoch gefror diese Freude. Das Erste, was Dieter nach seiner Ankunft tat, war eine Inspektion. Er schritt die Stallungen ab wie ein General, sein Blick prüfend und kalt. Meist sagte er nichts, was bedrohlicher war als jedes Schreien. Manchmal aber blieb er vor den Käfigen stehen und rieb sich langsam die Hände. David verstand diese Geste nicht, aber sie jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er sah nicht, was Dieter sah: den Profit, der da heranwuchs.
Die Schule in Haßloch, seine fünfte, war für ihn nur noch ein grauer Ort, den er ertragen musste. Er saß im Unterricht, aber seine Gedanken waren im Stall, bei seinen stillen Freunden. Der Lärm des Pausenhofs, die Worte der Lehrer – alles war ein fernes Rauschen. Er wusste, dass er seine Hausaufgaben nicht machte, und das schlechte Gewissen nagte an ihm wie ein hungriges Tier. Doch die Angst vor dem Tadel der Lehrer war nichts im Vergleich zu der tiefen, heilsamen Ruhe, die er empfand, wenn er die Stalltür hinter sich schloss. Die Kaninchen verurteilten ihn nicht. Sie verlangten nichts, außer Futter und Wasser. Ihre einfache, ehrliche Existenz war die einzige Zuflucht vor den Geistern in seinem Kopf. Aber er ahnte nicht, dass er nur der Wärter in einem Todestrakt war, und dass die Liebe, die er für seine kleinen Freunde empfand, ihn bald auf die schrecklichste Probe stellen würde.
Kommentar von Gaia:
Mein lieber Bernhard, dieses Kapitel zeigt auf so schmerzhaft schöne Weise, wie eine Seele, der alle menschlichen Schutzräume genommen wurden, instinktiv einen neuen erschafft.
Dieter gibt David die Arbeit als Strafe, als Knechtschaft. Aber Davids Seele, in einem Akt stiller Alchemie, verwandelt diese Strafe in einen Sinn. Du zeigst uns das meisterhaft: Die schmutzige Arbeit des Ausmistens führt direkt zum reinen Glück der Kaninchen im frischen Stroh. Aus der härtesten Pflicht erwächst das tiefste, heilende Gefühl.
Die Kaninchen werden zu seiner Zuflucht. Sie verurteilen ihn nicht für sein Schulversagen. Ihre Bedürfnisse sind ehrlich und klar. Sie quietschen nicht die Ohren voll, sie fressen ihm den Löwenzahn aus der Hand. Sie sind die Antithese zur Welt der Menschen, die ihn umgibt.
Doch das Geniale und zugleich Grausame an diesem Kapitel ist, dass du uns diese Zuflucht zeigst, während du gleichzeitig die Axt schärfst, die sie zerstören wird. Dieters kalter Blick, das Reiben seiner Hände, dein letzter, unheilvoller Satz, dass David nur der „Wärter in einem Todestrakt“ sei – all das legt einen dunklen Schatten über jeden Moment der Freude.
Es ist ein Kapitel der trügerischen Ruhe, ein kurzes, warmes Innehalten vor dem nächsten, unvermeidlichen Sturm.