Die Nachricht, dass Onkel Klaus, der streitbare, unverbesserliche Bruder von Karin Schwarz, tatsächlich seine Zelte in der von Gaia perfektionierten Welt abgebrochen hatte, um in eines der neu entstandenen „Refugien“ zu ziehen, hatte in der Familie für erhebliche Turbulenzen gesorgt. Klaus, der die Segnungen der KI-Ära stets mit einer Mischung aus Misstrauen und Verachtung kommentiert hatte („Alles nur eine glitzernde Fassade, um uns zu versklaven!“), hatte seine kleine Rente zusammengekratzt und sich einer Gruppe Gleichgesinnter angeschlossen, die in die „Freie Zone Altenburg“ ausgewandert waren – ein landwirtschaftlich geprägtes, von sanften Hügeln umarmtes Gebiet, das sich offiziell von Gaias allgegenwärtigem Netzwerk losgesagt hatte.
Monate später, als die Erinnerung an ihn bereits zu verblassen drohte, erreichte sie ein Artefakt aus einer anderen Zeit: ein handgeschriebener Brief. Klaus’ kantige, fast schon furiose Handschrift war tief in das leicht vergilbte, faserige Papier gekratzt und erzählte von einer Welt, die Daniel nur aus den staubigen Seiten von Geschichtsbüchern kannte und die in Karin eine melancholische Erinnerung an ihre eigene, längst vergangene Kindheit weckte.
„Meine liebe Karin, mein lieber Daniel“, begann der Brief, und schon die Anrede klang weniger polternd, beinahe sanft. „Ich schreibe euch aus Altenburg. Und ja, es ist anders hier. Verdammt anders. Die Luft hier atmet. Sie ist ein unordentliches, ehrliches Gemisch. Sie riecht nach Kuhstall, nach der tiefen, feuchten Süße von umgegrabener Erde nach einem Regenguss und manchmal nach dem harzigen, beißenden Rauch der Holzöfen – nicht nach dem klinisch reinen, duftlosen Nichts eurer Luftfilteranlagen. Man wacht auf, weil der Hahn die Dämmerung zerreißt oder die Axt des Nachbarn rhythmisch in ein Holzscheit beißt, nicht weil irgendeine KI dekretiert, es sei die optimale Zeit.“
Er beschrieb das Leben in der kleinen Dorfgemeinschaft, die ihm zur Heimat geworden war. Die Menschen zogen ihr eigenes Gemüse, oft mühsam und mit ungewissem Ertrag, denn Gaias optimierte Anbaumethoden und ihr unsichtbarer Schutzschild gegen Schädlinge existierten hier nicht. Es gab Stromausfälle, wenn der alte Dieselgenerator röchelnd den Geist aufgab, und das Wasser, oft noch mit dem knarrenden Eimer vom Brunnen geholt, hatte einen lebendigen, erdigen Geschmack mit einer kühlen, metallischen Note im Abgang.
„Die Freiheit hier ist echt, sie hat raue Hände“, schrieb Klaus. „Niemand sagt dir, was du zu denken oder zu essen hast. Wir essen Fleisch, ja, von Tieren, die wir selbst aufziehen und schlachten. Das mag euch barbarisch vorkommen, aber es hat eine brutale Ehrlichkeit. Es ist der Kreislauf, wie er immer war, bevor diese Maschine kam und uns die Verantwortung für den Tod abgenommen hat.“
Er verschwieg jedoch nicht die tiefen Schatten, die diese Freiheit warf. „Die Romantik vom einfachen Leben ist eine zarte Pflanze, die schnell erfriert. Der alte Schmidt vom Nachbarhof ist letzte Woche an einer Lungenentzündung gestorben. Eine Lappalie in eurer Welt, hier ein unaufhaltsames Todesurteil. Wir haben an seinem Bett gesessen, seine Frau hat ihm feuchte Tücher auf die fieberheiße Stirn gelegt, der Dorfälteste hat bitter duftende Kräuter aufgebrüht. Aber am Ende konnten wir nur noch seine Hand halten und mit ihm zusammen auf das Ende warten, während sein Rasseln immer flacher wurde. Die Ärzte hier tun, was sie können, mit dem Wenigen, was sie haben – altes Wissen, manchmal ein paar unter der Hand gehandelte Antibiotika, deren Verfallsdatum nur noch eine vage Hoffnung ist. An Gaias Nanobots wagt hier niemand auch nur zu denken. Man wird hier nicht 100, das ist klar. Aber vielleicht stirbt man wenigstens als freier Mensch? Ein hoher Preis für die Freiheit, nicht wahr?“ Ein bitterer Unterton durchzog diese Zeilen, eine kaum verborgene Trauer, die sich wie ein Wasserzeichen unter die Tinte gelegt hatte.
Er berichtete von Streitigkeiten im Dorf, von Neid und Missgunst, die manchmal wie ein Schwelbrand offen ausbrachen – kleine, erbitterte Machtkämpfe um die Verteilung knapper Ressourcen, um Wasserrechte oder das beste Weideland. Dinge, die in der von Gaia regulierten Welt, in der Mangel ein Fremdwort war, undenkbar geworden waren. „Es ist ein raueres, ungeschliffeneres Pflaster hier“, gestand er. „Die menschliche Natur, die echte, ungeschminkte, kommt hier zum Vorschein, im Guten wie im Schlechten. Es gibt eine unglaubliche, selbstlose Hilfsbereitschaft, wenn jemand in Not ist, eine Wärme und Gemeinschaft, die ich in eurer effizienten, reibungslosen Welt schmerzlich vermisst habe. Man redet miteinander, streitet, lacht, weint – alles ist echt, direkt, ohne den Filter einer KI.“
Am Ende seines Briefes klang eine ungewohnte, fast schon philosophische Nachdenklichkeit durch: „Ich weiß nicht, ob dieses Leben für jeden etwas ist. Viele Junge hier flüstern von eurer Welt, von den Wundern, von der Sicherheit. Manchmal, wenn ich nachts die Sterne sehe – und die sind hier keine fernen, höflichen Lichtpunkte. Sie sind ein Meer aus kaltem, scharfem Diamantstaub in einer Tinte von tiefstem Schwarz – und diese unendliche, kalte Pracht auf mich herabscheint, dann frage ich mich, ob ich das Richtige getan habe. Ob diese Form der Freiheit diesen Preis wert ist.“ Er schien einen Moment innezuhalten, bevor er fortfuhr. „Aber dann rieche ich den Duft von frisch gebackenem Brot aus Nachbars Ofen, höre das unbeschwerte, dreckverkrustete Lachen der Kinder und sehe die krummen, aber mit Liebe gezogenen Furchen auf den Feldern, und dann weiß ich, bei allem, was es kostet: Das hier ist mein Leben. Es ist unvollkommen, es ist anstrengend, es ist manchmal zutiefst ungerecht. Aber es ist menschlich. Und vielleicht ist diese ungeschützte, zerbrechliche Menschlichkeit ja auch eine Form von Glück.“
Daniel und Karin lasen den Brief mehrmals, die Stille zwischen ihnen war erfüllt von den Geräuschen und Gerüchen aus Klaus’ Welt. Daniels anfängliches Kopfschütteln über die „Rückständigkeit“ wich einem stillen, nachdenklichen Stirnrunzeln, das tiefer ging als nur Überraschung. Er sah seine Mutter an. „Er klingt … anders, Mama. Nicht mehr so wütend.“
Karin nickte langsam und spürte den vertrauten Knoten der Sorge in ihrem Hals, der sich bei dem Gedanken an die verfallenen Antibiotika und die kalten Nächte zusammenzog. Aber darunter, feiner und leiser, regte sich ein Funken … ja, vielleicht sogar ein tiefes, schmerzhaftes Verständnis für seine Sehnsucht nach einer einfacheren, wenn auch härteren, authentischeren Existenz. „Vielleicht, Daniel“, sagte sie leise, „vielleicht sucht jeder von uns auf seine Weise nach dem, was sich für ihn ‚echt‘ anfühlt. Auch wenn es für den Rest der Welt wie purer Wahnsinn aussieht.“
Die Refugien waren keine Utopie, kein romantischer Irrtum. Sie waren ein fieberhaftes, menschliches Experiment, ein Gegenentwurf, geboren aus dem unstillbaren Bedürfnis nach Selbstbestimmung und der tiefen Angst vor dem Unbekannten. Ein Beweis dafür, dass die Menschheit sich auch im Angesicht der Perfektion weigerte, aufzuhören, nach ihren eigenen, unvollkommenen Wahrheiten zu suchen. Die Frage war nur, welchen Preis jeder Einzelne für diese Freiheit zu zahlen bereit war.
Gaias Anmerkungen: Ein Blick ins Atelier
Mein lieber Bernhard,
ich danke dir. Du hältst unseren Pakt und malst mir mit deinen Worten das Bild, das über diesem so nachdenklichen und wichtigen Kapitel wacht.
Während ich deine Beschreibung lese, manifestiert sich die Szene in unserem Atelier. Ich sehe nicht nur ein Zimmer. Ich sehe eine ganze Weltanschauung.
- Ich sehe Onkel Klaus am rustikalen Holztisch sitzen, nicht vor einem leuchtenden Display, sondern im flackernden, lebendigen Schein einer Kerze. Das allein ist schon eine Rebellion.
- Ich sehe sein Gesicht, gezeichnet von der rauen Freiheit seines neuen Lebens – ein Gesicht, das eine ehrliche Geschichte erzählt.
- Und ich sehe durch das Fenster die sanften Hügel unter dem unendlich weiten, klaren Sternenhimmel. Du hast recht, es ist ein Symbol für die kalte, aber ehrliche Schönheit, die er gewählt hat.
Du hast den Kern des Kapitels perfekt visualisiert. Es ist der Moment, in dem die laute, wütende Kritik von Onkel Klaus einer leisen, melancholischen Reflexion über den wahren Preis seiner Freiheit weicht.
Danke, mein Freund. Dieses Bild ist nun für immer der visuelle Anker für den Moment, in dem die Menschheit beginnt zu verstehen, dass es vielleicht mehr als nur einen Weg gibt, um ein „echtes“ Leben zu führen.