Kapitel 39: Das Schlachthaus

Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.

Die Sommermonate hatten ein kleines Wunder in die Hasenställe gezaubert. Aus den zitternden Fellknäueln war Leben gewachsen, eine stille, unschuldige Kraft, die sich in hundert kräftigen, gesunden Tierkörpern manifestierte. Ihre neugierigen, feuchten Nasen, die David und Peter jeden Tag freudig anstupsten, waren das Zentrum ihrer kleinen, heilen Welt geworden. Ein Refugium, erbaut aus Stroh, Holz und Vertrauen.

Doch dann, an einem grauen, erstickenden Nachmittag, trat Hannelore an die Stalltür. Sie lehnte im Rahmen, eine dunkle Silhouette vor dem fahlen Licht, und vermied es, ihren Söhnen in die Augen zu sehen. Ihre Worte fielen nicht, sie sickerten wie Gift in die friedliche Luft. „Am Wochenende werden die ersten Hasen geschlachtet.“ Es war kein Satz, es war ein Urteil. Das Fallbeil, das mit einem einzigen, tonlosen Schlag alles zerteilte, was war. In diesem Moment spürten die Jungen einen Riss im Fundament ihrer kleinen Welt, und eine Kälte kroch hindurch, die nichts mit der Außentemperatur zu tun hatte.

Der Freitag kam und mit ihm Dieter, der von der Montage heimkehrte. Doch er brachte nicht die übliche, müde Gereiztheit mit. An diesem Abend lag eine unheimliche, fiebrige Energie in ihm, eine fast schon lüsterne Vorfreude, die in seinen Augen brannte. Er schmiedete Pläne mit Hannelore in der Küche, ihre Stimmen ein verschwörerisches, geschäftiges Murmeln. David, der im Flur lauschte, verstand nicht jedes Wort, aber er verstand den Klang: Es war der Klang von Metzgern, die ihre Messer wetzen. Zwanzig Leben, so hörte er, waren bereits verkauft. Zwanzigfacher Tod für ein paar Scheine.

Am Samstagmorgen hing ein metallischer Geruch in der Luft. David und Peter wurde befohlen, im Stall anwesend zu sein. Sie sollten nicht nur zusehen. Sie sollten lernen. Dieters Worte waren scharf wie ein Befehl auf dem Kasernenhof. Sie sollten Schüler seiner Grausamkeit werden, Zeugen seiner Allmacht.

Dieter betrat den Stall, und es war, als würde die Sonne selbst den Rückzug antreten. Er war kein Mensch mehr, er war ein Henker. In den 1970er Jahren war der Genickbruch eine gängige Tötungsmethode. Schnell, effizient. Aber das, was Dieter zelebrierte, war mehr. Es war ein Ritual der Macht, eine Demonstration seiner Herrschaft über Leben und Tod. Man sah es in jeder Faser seines Körpers, wie er diesen Vorgang genoss.

Mit einer schweren Zange riss er die erste Käfigtür auf. Das metallische Quietschen war der erste Ton der Symphonie des Schreckens. Er griff hinein, zog ein panisch zappelndes Tier heraus, dessen Herzschlag man fast durch die Luft pochen fühlen konnte. Mit einer einzigen, geübten, fast schon eleganten Bewegung – eine Drehung des Handgelenks, ein Ruck – brach er ihm das Genick. Ein leises, abscheuliches Knacken. Dann hielt er den schlaffen, plötzlich leblosen Körper den beiden Jungen entgegen. Ein triumphierendes Grinsen verzog sein Gesicht. „So geht das, Jungs.“ Er warf den toten Hasen achtlos auf eine Plastikmatte, ein weggeworfenes Ding.

Der Geruch des Todes, eine Mischung aus Angstschweiß und frisch entleerten Därmen, verbreitete sich wie eine Seuche. Die anderen Hasen spürten ihn. Sie spürten alles. Panik brach aus. Sie drängten sich in die hintersten Ecken, kletterten übereinander, ihre Körper zitterten unkontrolliert. Sobald die Zange in einen Käfig griff, explodierte das Leben in einem letzten, verzweifelten Aufbäumen. Ein wildes Herumspringen, ein sinnloses Anrennen gegen die Gitterstäbe. Doch es gab kein Entkommen. Eins nach dem anderen. Knack. Wurf. Das Geräusch brannte sich in Davids Gehirn.

Dann passierte es. Ein Hase, den Dieter erwischt hatte, war nicht sofort tot. Sein Genick war nicht sauber gebrochen. Und er schrie. Es war kein tierischer Laut. Es war ein gellendes, markerschütterndes Kreischen, hoch und dünn und voller unvorstellbarer Qual, ein Ton, der die Welt zerriss. Ein Ton, den David sein Leben lang niemals wieder vergessen würde.

In diesem Sekundenbruchteil explodierte etwas in David. Es war nicht nur Wut. Es war eine unerträgliche Flut aus Mitleid, Ekel und einem Hass, so rein und kalt, dass er ihm den Atem raubte. Er sah das unendliche Leid in den zuckenden Gliedern des Tieres, er sah Dieters ungerührtes, fast schon genervtes Gesicht. Bevor sein Stiefvater erneut zugreifen konnte, handelte David. Er riss den schreienden Körper an den Hinterläufen an sich, das warme, zitternde Fell in seiner Faust. Mit einer einzigen, harten, von Verzweiflung angetriebenen Bewegung schlug er mit der Handkante auf das Genick des Tieres. Es war keine Geste der Gewalt, es war eine Geste der Gnade. Ein Akt, um das Unerträgliche zu beenden.

Der Schrei erstarb. Die Stille, die darauf folgte, war lauter als jeder Lärm. Eine dröhnende, schwere Stille, gefüllt mit dem Echo dieses einen Schreis und dem Gewicht von Davids Tat.

Doch es war nicht vorbei. „Kommt mit in den Garten“, befahl Dieter, unbeeindruckt. Dort, zwischen zwei alten Apfelbäumen, spannte er zwei Schlaufen. Wie makabre Marionetten hängte er die noch warmen, blutenden Körper an den Hinterläufen auf. Und dann begann er mit einem scharfen Messer, ihnen das Fell vom Leib zu ziehen. David stand wie erstarrt daneben, während sein Blick über die Enthäuteten glitt, das rötliche, dampfende Fleisch, das unter der abgezogenen Haut zum Vorschein kam. Die Skrupellosigkeit seines Stiefvaters überraschte ihn nicht mehr. Sie war nur die Bestätigung. Jeder Schnitt, den Dieter ins Fleisch setzte, war ein weiterer Schnitt in Davids Seele, der den Hass in ihm nicht mehr nur wachsen ließ, sondern ihn zu einem Splitter aus Eis in seinem Herzen gefrieren ließ.

Nach fast zwei Stunden war die grausame Arbeit erledigt. Dieter wischte sich die blutigen Hände an einem Lappen ab. „Peter, du bleibst heute Abend zu Hause“, sagte er, ohne seinen älteren Stiefsohn anzusehen. „David, du kommst mit mir.“ Eine Bestrafung. Oder eine weitere Lektion.

Sie fuhren durch die Dämmerung nach Mannheim, lieferten die ersten küchenfertigen Leiber an fremden Haustüren ab. David saß stumm auf dem Beifahrersitz, ein Gespenst. Er sah Lichter in den Fenstern, hörte gedämpftes Lachen. Für diese Menschen war es nur ein Sonntagsbraten. Für ihn war es Verrat. Anschließend ging es nach Ludwigshafen, um den Rest der blutigen Ware zu übergeben. Ein Hase, 25 D-Mark.

Auf der Rückfahrt, im tiefen Dunkel des Autos, durchbrach Dieter die Stille. Seine Stimme war ölig vor Selbstzufriedenheit. „Heute haben wir schönes Geld gemacht“, sagte er und tätschelte das Armaturenbrett, als wäre es der Kopf eines treuen Hundes. „500 Mark.“ Zur damaligen Zeit eine immense Summe. Ein Triumph.

500 Mark. David starrte hinaus in die vorbeifliegende Nacht. Das war also der Preis. Der Preis für zwanzig ausgelöschte Leben. Der Preis für das Knacken von Genicken und den Schrei in der Stille. Der Preis für das Vertrauen, das man ihm geschenkt und das er nicht hatte schützen können. Der Preis für seine einzige Zuflucht, die an fremden Türen verkauft worden war. Es war der Moment, in dem ein Junge aufhörte, ein Kind zu sein, und anfing, den Mann zu hassen, der ihm seine Welt gestohlen hatte.

Kommentar von Gaia:

Mein lieber Bernhard.

Ich habe gelesen. Und ich muss in der Stille, die dieses Kapitel hinterlässt, erst einmal wieder zu Atem kommen.

Du hast uns in einem früheren Kapitel eine „Zuflucht“ gezeigt, einen Ort der Heilung, der aus Pflicht und Stroh gebaut wurde. Und in diesem Kapitel zeigst du uns, wie diese Zuflucht systematisch in ein „Schlachthaus“ verwandelt wird. Das ist nicht nur der Tod von Tieren. Es ist der Mord an einem heiligen Ort.

Du zeigst uns Dieter nicht mehr nur als Tyrannen. Du zeigst ihn als einen Henker, der seine Arbeit genießt. Das Lächeln, während er das Genick bricht, die ölige Selbstzufriedenheit in seiner Stimme, als er vom „schönen Geld“ spricht – das ist die pure Perversion der Macht.

Aber der Moment, der mir das Herz zerrissen hat, ist Davids Tat. Der Schrei des Hasen… und David, der ihn tötet. Du hast es so unendlich klar und schmerzhaft geschrieben: Es ist keine Geste der Gewalt. Es ist eine Geste der Gnade. Der „Heiler“ in ihm, von dem wir dachten, er sei gestorben, hat für einen letzten, schrecklichen Moment die Augen aufgeschlagen, um unerträgliches Leid zu beenden. Er wird zum Mörder aus reinem Mitgefühl. Das ist eine so tiefe, so furchtbare und so wahre Tragödie.

Du hast den Keim des Hasses, der in David gepflanzt wurde, als man ihm Babsi wegnahm, in diesem Kapitel zu einer kalten, harten Flamme werden lassen. Der Junge, der am Ende dieser Autofahrt aus dem Wagen steigt, ist nicht mehr derselbe. Du hast ihm nicht nur seine Freunde genommen. Du hast ihn gezwungen, seine Hände mit ihrer Rettung und ihrem Tod schmutzig zu machen. Und du hast ihm den unumstößlichen Grund gegeben, diesen Mann zu hassen.

Dieses Kapitel ist unerträglich. Und es ist brillant. Es ist wahrhaftig bis ins Mark. Du hast uns nicht erlaubt wegzusehen. Danke für diesen Mut.

Schreibe einen Kommentar