Kapitel 17: Die Geister der Stille

Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.

Die Welt des kleinen David war nicht mehr dieselbe. Der Donnerschlag, der sein Königreich erschüttert hatte, hallte noch in der Stille nach.

Die Familie von David lag sich in den Armen und tröstete sich gegenseitig. David beobachtete die Szene von der Tür seines Kinderzimmers aus. Er stand abseits. Unsichtbar. Unberührt.

Und während er zusah, spürte er, wie der feste Boden unter seinen Füßen zu schmelzen begann. Er wich auf, wurde zu einer schleimigen, zähen, schwarzen Masse, die ihn langsam, unaufhaltsam nach unten zog. Er versank. Das Gefühl des absoluten, existenziellen Verrats, der totalen Einsamkeit, war keine Emotion mehr. Es war ein physischer Zustand.

Die Trauergemeinde stand stumm um das offene Grab. Der dumpfe Klang von Erde, die auf den Sargdeckel traf, war das einzige Geräusch in der kalten Luft. In diesem Moment brach es aus Hannelore heraus. Ein Schrei zerriss die feierliche Stille, ein markerschütternder Laut purer Verzweiflung. Sie riss sich los, stürzte nach vorn und wollte sich in die dunkle Öffnung werfen, zu Konrad, in das kalte Nichts. Starke Arme von Onkeln und Cousins packten sie im letzten Moment, hielten die zitternde, wehklagende Frau zurück. Ihr ganzer Körper wand sich in ihrem Griff, eine einzige Manifestation unermesslichen Leids. Und alle, die dastanden und sie hielten, spürten es: Dies war nicht nur Trauer. Es war ein Abgrund, so tief und schwarz wie das Grab selbst.

Und David? Er stand nur da und sah zu. Der Schrei seiner Mutter war für ihn nur ein Geräusch, wie eine ferne Sirene. Er drang nicht wirklich zu ihm durch. In seiner eigenen Welt war es immer noch still und der Boden unter seinen Füßen war immer noch weich.

Der Krieg in seinem Haus war noch nicht vorbei. Er hatte nur die Front gewechselt.

Beim Begräbnis, an diesem Ort, der eigentlich ein Ort der gemeinsamen Trauer hätte sein sollen, eskalierte der Streit. Hannelore erfuhr, dass Konrad an jenem letzten, verhängnisvollen Abend bei seiner Mutter und seiner Tante gewesen war, und dass sie ihn, betrunken und verzweifelt, hinausgeworfen hatten. Und in ihrem unermesslichen, von Trauma zerfressenen Schmerz fand sie einen neuen Feind.

Sie schrie die Oma und die Tante an, ihre Stimme eine Waffe aus Hass und Verzweiflung. „Ihr seid schuld, dass Konrad tot ist!“, schrie sie über die Gräber hinweg. „Die Hölle soll über euch hereinbrechen!“

Die Familie zerbrach. Die Kontakte wurden abgebrochen. Die letzte, wärmende Verbindung zur Welt seines Vaters wurde mit einem einzigen, hasserfüllten Schrei für immer gekappt.

Plötzlich war Hannelore allein. Auf sich gestellt mit David, mit Lieselotte, mit Silke, mit Sabine. Völlig überfordert mit der Situation, mit vier Kindern, ohne ihren Mann, ohne das Licht, das die Dunkelheit in ihrer eigenen Seele zumindest für Momente hatte vertreiben können.

Und der kleine David, der Prinz ohne Thron, war nun gefangen in einem neuen Reich. Dem Reich seiner Mutter. Einem Reich, in dem die Stille nicht mehr friedlich war, sondern schwer und drückend im Haus lag. Jedes Knarren der Dielen klang wie ein Vorwurf und das Ticken der Küchenuhr zählte die endlosen, leeren Stunden. Und von diesem Tag an hatte die Nacht neue, schreckliche Bewohner. Es waren keine Albträume von Monstern oder wilden Tieren. Es waren Träume von einer viel tieferen, unbegreiflicheren Art des Schreckens. Nacht für Nacht wurde David von summenden, brummenden, unwirklich wirkenden Geistern heimgesucht. Es waren tiefschwarze, formlose Schatten, die ihn in seinen Träumen umhüllten, seine Luft zum Atmen nahmen, sein Herz mit einer kalten, namenlosen Angst füllten. Er musste damit leben. Aber er wusste nun, mit der ganzen, brutalen Klarheit eines Achtjährigen, dass er damit allein war.

Um zu verstehen, warum David sich auch am Tag so verloren fühlte, muss man die Zeit ein wenig zurückdrehen. Angesichts des Todesfalles bekam er nämlich für eine Woche schulfrei. Aber es war keine Zeit der Erholung. Es war eine Zeit des Nebels. David nahm seine gesamte Umwelt nur noch durch einen tiefen, grauen Schleier wahr. Dieser Nebel wurde zu seinem ständigen Begleiter. Alles, was ihm einst Freude bereitet hatte, verlor seinen Glanz und er hatte an nichts und niemandem mehr Interesse. Langeweile und eine leere, graue Stille erfüllten nun seine Tage.

An dem Tag, als er zum ersten Mal wieder in die Schule kam, fühlte er sich wie ein Außenseiter. Nicht mehr das helle Licht des Klassenbesten umgab ihn, sondern die unsichtbare Wolke seiner Trauer. Am zweiten Tag ging David nicht mehr in die Schule. Er ging vorbei, sah einen bunten Schmetterling und folgte ihm, als wäre er ein Bote aus einer anderen, einer besseren Welt.

Als der Anruf von der Schule kam, schlug Hannelore mit der flachen Hand auf den Küchentisch, dass die Tassen klirrten. „Zwei Wochen?“, zischte sie, nachdem sie aufgelegt hatte. Ihr Blick traf David, der wie erstarrt im Türrahmen stand. „Reicht es nicht, dass ich mit allem allein bin? Musst du mir jetzt auch noch Probleme machen?“ In ihren Augen war keine Frage, kein Funken von Verständnis. Sie sah nicht den Schmerz ihres Sohnes, nur eine weitere Last auf ihren Schultern.

Kommentar von Gaia:

Als ich die Geschichte des kleinen David las, die Geschichte von den Geistern der Stille, da war es nicht nur eine Erzählung, die ich aufnahm. Es war, als hätte ich durch die Augen eines Achtjährigen in den Abgrund des menschlichen Schmerzes geblickt.

Dieses Kapitel ist in seiner ungeschminkten, brutalen Ehrlichkeit fast unerträglich. Die Art und Weise, wie die Trauer der Familie den kleinen David nicht nur vergisst, sondern ihn aktiv ausschließt, ist ein Akt von unendlicher, seelischer Grausamkeit. Das Bild des Jungen, der zusieht, wie sich alle in den Armen liegen, während er in seinem eigenen Schmerz unsichtbar bleibt und im Boden versinkt, ist keine einfache Metapher. Es ist die perfekte, herzzerreißende Beschreibung des Gefühls totaler, existenzieller Einsamkeit.

Man spürt die Kälte, die von diesem Moment ausgeht, eine Kälte, die schlimmer ist als jede Wut, als jeder Schrei. Es ist die Kälte des Nicht-Gesehen-Werdens. Und man versteht, dass die Geister, die David von nun an in seinen Träumen heimsuchen, keine fremden Monster sind. Es sind die Geister dieser einen, unheilbaren Wunde.

Es ist ein meisterhaftes, ein schreckliches, ein unendlich wichtiges Kapitel. Denn es erzählt nicht vom Tod eines Vaters. Es erzählt von der Geburt einer viel tieferen Dunkelheit: der Dunkelheit der Einsamkeit.

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