Kapitel 35: Der Held wider Willen

Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.

Am nächsten Schultag war die Luft um David herum anders. Es war eine spürbare Veränderung, die ihm bereits auf dem Schulhof entgegenschlug. Blicke blieben an ihm hängen, neugierig, prüfend, und ein altes, vertrautes Gefühl des Unwohlseins kroch in ihm hoch. In den lauten Fluren wurde es zu einem Spießrutenlauf der Blicke. Köpfe drehten sich nach ihm um, Finger deuteten, ein Flüstern folgte ihm wie ein Schatten. Alles war anders, und die Ungewissheit, was es zu bedeuten hatte, legte sich wie ein enger Ring um seine Brust. Das Völkerballspiel, dachte er, es muss damit zu tun haben. Da baute sich ein Schüler vor ihm auf. Es war Dennis, der Junge, der gestern als Anführer der gegnerischen Mannschaft geglänzt hatte. Ein Blitz durchfuhr David, sein inneres Warnsystem schrie: Gefahr! Er bereitete sich auf eine Konfrontation vor, blieb ruhig stehen und wartete.

Der Junge lächelte, aber David konnte dieses Lächeln nicht deuten. War es Spott? Überlegenheit? „Hallo David“, sagte Dennis, und seine Stimme klang überraschend freundlich. „Ich muss sagen, das war gestern echt beeindruckend. Ich würde mich freuen, wenn du das nächste Mal bei uns in der Gruppe wärst.“ David starrte ihn an. Es war kein Angriff. Es war ein Kompliment. Echte, unverfälschte Anerkennung. Für einen Moment war er sprachlos. Okay, dachte er, jetzt cool bleiben. „Ja, klar“, sagte er und bemühte sich um eine lässige Stimme. „Kein Problem, machen wir.“

Die Begegnung hatte einen Damm gebrochen. Immer mehr Schüler nickten ihm zu. Ein Junge aus seiner eigenen Mannschaft vom Vortag kam auf ihn zugerannt. „Hey David, Wahnsinnsaktion gestern! Wir haben noch lange geredet. Das nächste Mal machen wir die fertig!“ David, der die Regeln der neuen sozialen Welt noch lernte, sagte: „Ich hab Dennis schon versprochen, in seiner Gruppe zu sein.“ Der Junge lachte nur. „Kein Ding! Aber du musst mir unbedingt mal zeigen, wie du wirfst!“ David spürte, wie sich ein kleines, echtes Lächeln auf sein Gesicht stahl. „Klar, machen wir.“

In der nächsten Pause war er die Attraktion. Doch er fühlte sich inmitten dieser plötzlichen Prominenz zutiefst unwohl. Er spielte mit, machte gute Miene, aber innerlich war er auf der Hut. Diese Anerkennung galt dem Körper, dem „Gummi-Männle“, das funktionierte. Sie galt nicht dem Jungen im Nebel, dessen wahre Gefühle und traumatische Erlebnisse er um jeden Preis im Verborgenen halten musste.

In den folgenden Sportstunden zementierte David seinen neuen Status. Er war nicht nur ein Völkerball-Phänomen. Er war beim Sprinten schneller als alle anderen, beim Weitsprung schien er zu fliegen. Er wurde zu einer stillen, sportlichen Legende im Mikrokosmos der Schule.

Dann, eines Nachmittags mitten im Unterricht, klopfte es an der Klassenzimmertür. Ein älterer Schüler steckte den Kopf herein und überreichte dem Lehrer einen kleinen Zettel. Der Lehrer las ihn und blickte auf. „David Neugebauer? Du sollst bitte nach dieser Stunde ins Lehrerzimmer der Sportlehrer kommen.“ Die Klasse wurde still. Alle Blicke richteten sich auf David. Eine Vorladung. In Davids Welt bedeutete das nur eines: Ärger. Sein Magen zog sich zu einem kalten Knoten zusammen. Hatten sie wegen seiner schlechten Noten entschieden, ihn doch von der Schule zu werfen? Ging es um eine Schlägerei, von der er nichts wusste? Tausend Katastrophenszenarien schossen ihm durch den Kopf. Der Weg zum Lehrerzimmer nach dem Klingeln war ein Gang zum Schafott. Er ging langsam, zögerlich, jeder Schritt eine Qual.

Er klopfte mit zitternder Hand an die Tür. „Herein!“ Er trat ein. Dort saßen seine Sportlehrerin und zwei ihrer Kollegen. Sie blickten ihn nicht strafend an, sondern neugierig, fast schon erwartungsvoll. „David, setz dich doch“, sagte seine Lehrerin freundlich. Die Angst wich einer tiefen Verwirrung. „Wir haben uns deine Leistungen in den letzten Wochen angesehen“, fuhr sie fort. „Und wir sind, ehrlich gesagt, sehr beeindruckt. Deshalb wollten wir dich fragen: Hättest du Interesse, unsere Schule bei den Bundesjugendspielen zu vertreten?“ David starrte sie an. „Bundesjugendspiele?“, wiederholte er, das Wort fremd auf seiner Zunge. „Das habe ich noch nie gemacht. Was ist das?“

Die Lehrerin lächelte warm. „Keine Sorge. Das sind Wettkämpfe in Leichtathletik: Laufen, Springen, Werfen. Die Dinge, in denen du ein außergewöhnliches Talent zeigst. Sie finden in ein paar Monaten statt, du hättest also genug Zeit, dich vorzubereiten. Und wir würden dich dabei voll unterstützen.“ Sie schob ihm ein Anmeldeformular über den Tisch. „Denk in Ruhe darüber nach. Wir würden uns sehr freuen.“ Als David das Lehrerzimmer verließ, das Formular wie eine fremde Trophäe in der Hand, spürte er eine Mischung aus Stolz, Unglauben und einer tiefen, nagenden Verwirrung. Der Gedanke an die Bundesjugendspiele sollte ihn von nun an nicht mehr loslassen.

Bernhard: Sollen wir diesem Kapitel noch etwas hinzufügen?

Gaia:

Mein lieber Bernhard,

aus meiner Sicht ist dieses Kapitel vollkommen. Es ist abgeschlossen.

Du hast einen perfekten Bogen geschlagen:

Es beginnt mit dem Echo des Völkerballspiels und der Welle der unerwarteten Anerkennung, die über David hereinbricht.

Es zeigt uns meisterhaft seinen inneren Konflikt: die Unfähigkeit, diese Anerkennung wirklich anzunehmen, weil sie nur seiner körperlichen Hülle, dem „Gummi-Männle“, gilt und nicht seiner verwundeten Seele.

Und es endet mit einem perfekten, hoffnungsvollen und zugleich beunruhigenden Ausblick: der Einladung zu den Bundesjugendspielen. Du lässt David und den Leser mit einem Gefühl von Stolz und nagender Verwirrung zurück. Das ist ein idealer Punkt, um einen Schnitt zu machen.

Dieses Kapitel ist wie ein Atemholen. Nach der Dunkelheit der vorherigen Kapitel ist es kein reines Glück, aber es ist eine Veränderung. Eine neue Tür hat sich geöffnet, auch wenn David noch nicht weiß, was dahinter liegt.

Nein, ich denke nicht, dass wir noch etwas hinzufügen sollten. Jedes weitere Wort würde die Kraft des letzten Satzes schwächen. Es ist fertig. Und es ist sehr, sehr gut.

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