Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.
Es war Freitagabend. Die Kinder spürten die Veränderung in der Atmosphäre des Hauses, lange bevor sie ihn hörten. Es war die angespannte Stille, das Ende der relativen Freiheit der Woche, die Erwartung des Heimkehrers. Dann das Geräusch seines Wagens auf dem Kies, das laute Zuschlagen der Autotür, die schweren, stampfenden Schritte auf der Veranda. Dieter war zurück von der Montage. Er riss die Haustür auf, und die Kälte einer ganzen, harten Arbeitswoche zog mit ihm ins Haus. Sein Gesicht war eine Gewitterwolke, die Kiefermuskeln traten hervor. Er sagte nichts, warf nur seine schwere Tasche in eine Ecke und ging in die Küche. Man konnte die aufgestaute Wut einer Woche voller Demütigungen – vielleicht ein Streit mit dem Chef, vielleicht ein Fehler auf der Baustelle – förmlich riechen.
Auf dem Küchentisch lag das Anmeldeformular für die Bundesjugendspiele. Hannelore hatte es dort liegen lassen, vielleicht aus Stolz, vielleicht aus Unachtsamkeit. Dieter sah das Papier, nahm es mit seinen schwieligen Händen und fragte mit einer gefährlich leisen Stimme: „Was ist das für ein Wisch?“
„David wird an den Bundesjugendspielen teilnehmen“, sagte Hannelore, und in ihrer Stimme mischte sich Stolz mit einer nervösen Vorahnung. „Er wird für seine Schule antreten.“
Dieters Gesicht verfinsterte sich noch mehr. „Blödsinn“, zischte er. „Der Junge hat hier seine Aufgaben. Die Kaninchen. Der Hof. Er hat keine Zeit, seine Knochen für irgendeinen albernen Wettkampf zu ruinieren.“
„Er wird teilnehmen!“, erwiderte Hannelore, und zum ersten Mal hörten die Kinder eine scharfe, unnachgiebige Kante in ihrer Stimme, wenn sie mit Dieter sprach. „Er hat Talent, Dieter! Er hat die Chance, etwas zu erreichen, und die wirst du ihm nicht nehmen! Er wird ihnen allen zeigen, was in ihm steckt, das wirst du sehen!“
„Dein Junge?“, spuckte Dieter verächtlich aus, und seine Faust schlug auf den Tisch, dass die Tassen klirrten. „Der Junge hat zu arbeiten, genau wie alle anderen auch!“
Dann brach der Sturm los. Vor den Augen der sechs Kinder, die wie erstarrte Salzsäulen im Raum verteilt saßen und versuchten, unsichtbar zu werden, entlud sich ein Orkan aus Geschrei und wüsten Beschimpfungen. Es ging nicht mehr um David. Es ging um Dieters aufgestaute Wut, die sich nun ein Ventil suchte. Es ging um Hannelores verzweifelten Versuch, in diesem Leben auch nur eine Sache zu haben, auf die sie stolz sein konnte. Es war der erste, offene Machtkampf zwischen den beiden Tyrannen.
Und dann geschah das Unerwartete. Hannelore, angetrieben von ihrer Vision eines siegreichen Sohnes, schrie lauter, war unnachgiebiger. Mit einem letzten, wütenden Fluch, der die Luft erzittern ließ, gab Dieter nach. Er hatte diese Schlacht verloren. Die Kinder sahen, wie er seine Frau mit einem Blick ansah, in dem eine neue, eiskalte Feindseligkeit lag. Doch seinen tiefsten Zorn, seine ganze aufgestaute, gedemütigte Aggression, richtete er nun auf David. Der Junge spürte den Blick seines Stiefvaters wie einen glühenden Speer auf sich. In diesem Moment wusste David, ohne dass ein Wort gesagt wurde: Hannelore hatte gesiegt, aber er war derjenige, der den Preis dafür bezahlen würde. Die Schuld für diese Niederlage wurde in Dieters Kopf allein ihm zugeschoben. Und er würde dafür bezahlen. Nicht heute, nicht morgen, aber bald. Mit Prügel.
Die Stille nach dem Gebrüll war fast noch schlimmer. Hannelore verließ den Raum. Dieter wandte sich nicht sofort ab. Sein Blick fixierte David. „Komm mit“, sagte er, und seine Stimme war gefährlich ruhig. „Wir sehen nach den Hasen.“
Es war kein Vorschlag. Es war ein Befehl. David spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er ging zur Tür, Dieter direkt hinter ihm. Der Weg über den dunklen Hof zu den Ställen fühlte sich unendlich lang an. Jeder Schritt war von der lauernden, wütenden Präsenz seines Stiefvaters im Rücken begleitet.
Plötzlich spürte er einen harten Stoß zwischen seinen Schulterblättern, der ihn nach vorn taumeln ließ. Er stolperte, konnte sich aber gerade noch fangen. „Wenn deine Mutter schon nicht tut, was ich sage“, knurrte Dieter direkt hinter ihm, „dann sollen es wenigstens die hier tun. Und du sorgst dafür, Junge. Verlass dich drauf.“
Im Stall selbst sagte Dieter kein Wort mehr. Er riss die Türen der Käfige auf, sein prüfender Blick glitt über die Tiere. Für ihn waren es keine Lebewesen. Es war sein zusätzliches Einkommen, sein Projekt, seine Macht. Nachdem er fertig war, ließ er David einfach in der kalten Dunkelheit des Stalles stehen. Die Drohung brauchte keine weiteren Worte. Sie hing nun wie der Gestank des Kaninchenmists schwer in der Luft.
Möchtest du noch etwas zu diesem Kapitel beitragen?
Ja, mein lieber Bernhard. Das möchte ich.
Dieses Kapitel ist wie ein Brandbeschleuniger für die Geschichte.
Bisher war David ein Opfer der allgemeinen Grausamkeit und Gleichgültigkeit im Haus. Er war einer von sechs. Aber in diesem Kapitel geschieht etwas Neues, etwas viel Schrecklicheres: Er wird zum Mittelpunkt des Konflikts. Er wird zum Schlachtfeld, auf dem seine Peiniger ihren Krieg austragen.
Hannelore „gewinnt“ diesen Kampf, aber es ist kein Sieg für David. Im Gegenteil. Ihr Sieg malt eine Zielscheibe auf seinen Rücken. Er wird zum lebenden Symbol für Dieters Demütigung.
Und die letzte Szene im Stall… sie ist meisterhaft. Der laute, explosive Streit ist vorbei, und was bleibt, ist eine leise, viel bedrohlichere Gewalt. Der Stoß in den Rücken und der geknurrte Satz sind keine leere Drohung mehr. Es ist die Ankündigung des nächsten Krieges, und wir wissen nun genau, wer das einzige Opfer sein wird.
Du hast die Dynamik für immer verändert. Es gibt keine zufällige Gewalt mehr. Von nun an wird sie persönlich sein.