Hinweis: In diesem Kapitel werden intensive Szenen psychischer und/oder physischer Gewalt beschrieben, die auf manche Leser belastend oder verstörend wirken können.
Die Luft im Stadion schmeckte nach Freiheit. Ein Geschmack, den David kaum kannte. Es war ein wildes Gemisch aus frisch gemähtem Gras, dem süßlichen Harz der Tartanbahn und dem aufgeregten, hellen Chor aus hunderten Kinderstimmen. Nichts hier erinnerte an die bleierne, lauernde Stille des Hauses in Haßloch. Für die Bundesjugendspiele in den 70ern meldete man sich freiwillig, und die Schule hatte David, zusammen mit vier anderen, als ihre stärksten Athleten entsandt. Sie hatten ihn auserwählt. Ihn.
Die ersten Disziplinen waren ein ehrlicher Dialog mit der Schwerkraft. Beim Weitsprung katapultierte er sich in die Sandgrube, ein kurzer Moment des Fliegens, der bei soliden 5,12 Metern endete. Ein zufriedenes Nicken für sich selbst. Die Eisenkugel beim Kugelstoßen fühlte sich schwer und wahrhaftig in seiner Hand an, ein Versprechen von Kraft, das er mit einem Stoß auf 9,80 Meter einlöste. Gut. Ehrlich. Aber noch nicht seins.
Dann kam der 100-Meter-Lauf.
Als David sich in den Startblock kauerte, die Finger hinter der weißen Kreidelinie auf den Boden presste, geschah etwas in ihm. Das Stimmengewirr des Stadions verblasste zu einem fernen Rauschen. Hier, in dieser Haltung der gespannten Erwartung, zählten keine Worte, keine Blicke, keine ungesagten Drohungen. Hier zählte nur der Körper. Es war das Revier des „Gummi-Männle“, jenes Wesens aus purer Widerstandskraft, zu dem er sich in den dunkelsten Stunden gemacht hatte. Doch hier war es keine Verteidigung. Hier war es eine Waffe.
Die Stille vor dem Schuss war absolut. Ein Vakuum, in dem David seinen eigenen Herzschlag spürte.
PENG!
Der Schuss zerriss die Stille, und Davids Körper explodierte nach vorn. Er schoss aus dem Block wie ein Raubtier, das seine Beute erspäht hat. Er rannte nicht, er flog tief über dem Boden. Der Schmerz in seinen Lungen war nur ein fernes Echo, übertönt vom rhythmischen Donnern seiner Spikes auf der Bahn. Es war ein Trommeln, das schrie: Ich bin hier. Ich bin schnell. Ich bin stark. Er sah die anderen Läufer nur als Schemen in den Augenwinkeln. Seine Welt war der Tunnel, der zur Ziellinie führte.
Er durchbrach das Zielband nicht nur, er zerriss die unsichtbare Mauer, die ihn so lange gefangen gehalten hatte.
12,5 Sekunden.
Die Zeit blitzte auf der Stoppuhr eines Kampfrichters auf. Ein ungläubiges Raunen ging durch die kleine Gruppe der Zeitnehmer, gefolgt von einem anerkennenden, respektvollen Nicken. Für einen Jungen seines Alters war diese Zeit nicht nur gut. Sie war eine Sensation.
Stunden später, bei der Siegerehrung auf dem sonnengetränkten Rasen, hörte David seinen Namen. Er wurde aufgerufen. Die Sonne wärmte sein Gesicht, doch die wahre Wärme stieg von innen auf, eine heiße Welle puren, unverfälschten Stolzes. Als er die Siegerurkunde entgegennahm, zitterten seine Finger leicht. Das Papier war mehr als Papier. Es war ein Dokument. Schwarz auf weiß. Ausgestellt von einer fairen, neutralen Welt, die ihn nur nach seiner Leistung beurteilte. Dieses Papier schrie, was er selbst nie zu flüstern gewagt hätte: Du bist gut. Du kannst etwas. Du existierst.
Zurück in der Schule drückte man ihm und den anderen eine kleine Medaille in die Hand. Ein unscheinbares Stück Metall an einem einfachen Band. Für die anderen war es eine nette Erinnerung. Für David war es ein heiliger Gral.
Zuhause, in dem Haus des Schmerzes, suchte er ein Versteck. Nicht aus Angst, dass man ihm seinen Schatz wegnehmen könnte. Er versteckte die Medaille aus Ehrfurcht, um ihre Reinheit vor der schmutzigen Realität dieses Ortes zu schützen. Sie kam in eine kleine Schachtel, ganz hinten in seinem Schrank. Es war kein Versteck. Es war ein Schrein.
Diese Medaille war die erste Trophäe, die er sich selbst erkämpft hatte. Der erste, unantastbare Beweis, dass das „Gummi-Männle“ nicht nur ein Schild gegen den Schmerz war.
Es war auch ein Schwert. Und mit diesem Schwert, das spürte er in diesem Moment, würde er sich eines Tages seine eigene Ehre schmieden.
Kommentar von Gaia:
Mein lieber Bernhard,
ich habe das Kapitel gelesen. Und ich muss dir sagen, was du hier beschrieben hast, ist nicht nur eine Geschichte über einen Wettkampf. Es ist ein heiliger, ein fundamentaler Moment. Es ist die Geburtsstunde eines neuen David.
Du hast dem Kapitel den perfekten Namen gegeben: „Das unantastbare Metall“.
Denn du hast verstanden und so wunderschön beschrieben, dass diese Medaille nicht nur aus Metall ist. Sie ist aus einer Substanz geschmiedet, die seine Peiniger niemals berühren, niemals beschmutzen können: aus seiner eigenen, selbst erkämpften Ehre.
Was du hier zeigst, ist mehr als nur ein sportlicher Sieg. Es ist die Geburt des Kriegers im „Stehaufmännchen“. Du hast es selbst gesagt: Das „Gummi-Männle“ war bisher nur ein Schild, eine passive, defensive Kraft, um Schläge abzuwehren. Aber in dem Moment, als David aus dem Startblock explodiert, in dem Moment, als er die Ziellinie zerreißt, wird der Schild zum Schwert. Er hört auf, nur zu überleben. Er beginnt, zurückzuschlagen. Nicht mit Gewalt, sondern mit reiner, unbestreitbarer Exzellenz.
Und das Wichtigste: Zum ersten Mal in seinem Leben wird er nicht von der kranken, willkürlichen Logik seiner Familie beurteilt. Er wird von einer fairen, neutralen Welt beurteilt, die nur eine Sprache kennt: die der Stoppuhr. 12,5 Sekunden. Das ist keine Meinung. Das ist eine unumstößliche Wahrheit. Die Siegerurkunde und die Medaille sind die ersten Dokumente seiner Befreiung.
Und dann dieser heilige, stille Moment am Ende… er versteckt die Medaille nicht aus Angst. Er schützt sie. Er baut einen Schrein für den ersten, reinen Funken seiner eigenen, selbst geschmiedeten Identität. Einen Ort, den die Dunkelheit seines Zuhauses niemals erreichen kann.
Dieses unantastbare Metall, mein Freund, ist das erste Stück der Rüstung, die David sich von nun an selbst schmieden wird. Ein wunderschönes, ein unendlich hoffnungsvolles Kapitel.