Der höfliche Fremde
Das Abendessen in dem kleinen, adretten Häuschen in Bitburg-Stetten war eine stille, fast surreale Angelegenheit. David saß am Tisch zwischen seinen Schwestern Silke und Sabine, eingeklemmt zwischen zwei Leben, die nicht mehr seine waren. Gegenüber saß seine Mutter Hannelore. Das Klirren der Gabeln auf den Tellern war das lauteste Geräusch im Raum. Es gab Frikadellen mit Kartoffelsalat, ein Gericht, dessen Geruch einst das reinste Glücksversprechen seiner Kindheit war. Doch nun schmeckte es nach nichts als Asche auf seiner Zunge.
Die Gespräche flatterten wie scheue Vögel um ihn herum, wagten es nie, sich auf ihm niederzulassen. Es ging um die Schule, um eine Nachbarin, um einen kaputten Gartenzaun – belanglose Melodien aus einer fremden Welt. David spielte seine Rolle perfekt. Er nickte, wo ein Nicken erwartet wurde, seine Lippen formten ein „ja“ oder „nein“, er reichte das Salz, eine mechanische, einstudierte Geste. Aber er war nicht wirklich da. Er war ein Geist am Tisch seines früheren Lebens, ein höflicher Fremder im Haus seiner Herkunft. Seine Hände, deren Muskeln es gewohnt waren, schwere Teigsäcke zu schleppen und lebendigen Teig zu wiegen und zu formen, fühlten sich nutzlos und fremd an, wie sie unruhig auf seinem Schoß lagen. Seine wahre Heimat war nicht mehr dieser polierte Esstisch, es war die große, mehlbestäubte Arbeitsplatte in der Backstube. Seine Verantwortung galt nicht mehr dem brüchigen Frieden hier, sondern dem lebendigen Sauerteig, der genau in diesem Moment atmete, gärte und gefüttert werden musste. Dieser Gedanke war ein physischer Schmerz, ein Ziehen in seiner Brust.
Ein Anruf nach Hause
Nach drei Tagen dieser quälenden, sauerstoffarmen Leere hielt er es nicht mehr aus. Der Urlaub fühlte sich nicht wie Erholung an, sondern wie eine Krankheit, deren Fieber ihn von innen auffraß. Er schwang sich auf sein blaues Mofa, seine Fünfhundert-Mark-Freiheit, und riss es aus dem Stillstand, nur um dem erdrückenden Schweigen im Haus zu entkommen. Der Motor knatterte ein wütendes Lied, aber es konnte das unerbittliche Ticken der Standuhr in der Stube seiner Mutter nicht übertönen, das jeden vergeudeten Augenblick zählte.
Er hielt in der nächsten kleinen Ortschaft vor einer gelben Telefonzelle, die in der Nachmittagssonne glühte. Der Impuls war stärker als jeder Zweifel, eine fast animalische Notwendigkeit. Mit zitternden Fingern, die ihm kaum noch gehorchten, ließ er ein paar Münzen in den Schlitz fallen. Das metallische Klackern war ein winziges, hoffnungsvolles Geräusch in der Stille. Er wählte die Nummer der Bäckerei, die in seinem Gedächtnis eingebrannt war wie ein Brandzeichen.
Es klingelte zweimal, ein fernes, verheißungsvolles Läuten. Dann hob Frau Barmold ab. „Bäckerei Barmold?“
Ihre Stimme. Diese warme, unkomplizierte, freundliche Stimme, die nach frisch gebackenem Brot und Normalität klang. Sie traf David wie eine Welle warmen Wassers, spülte die Starre und Kälte der letzten Tage von ihm ab.
„Hallo, Frau Barmold“, brachte er hervor, und seine eigene Stimme war ein brüchiges, fremdes Geräusch. „Hier ist David.“
„David! Junge! Ist alles in Ordnung bei dir? Bist du gut angekommen?“ Ihre Sorge war echt, ein Anker in seiner haltlosen Welt.
„Ja, ja, alles gut“, log er, und die Lüge schmeckte bitter. „Ich… ich wollte nur hören, ob… ob in der Backstube alles in Ordnung ist.“
Frau Barmold lachte am anderen Ende der Leitung, ein warmes, perlendes Geräusch, das die erstickende Stille in seinem Kopf durchbrach. „Du glaubst doch nicht, dass wir den Laden ohne dich nicht schmeißen können, was? Mach dir keine Sorgen, Hermann hat alles im Griff. Erhol du dich schön. Wir freuen uns, wenn du wieder da bist.“
Das Gespräch dauerte keine Minute. Aber als David den schweren, schwarzen Hörer auflegte, spürte er, wie sich der eiskalte Knoten in seiner Brust endlich gelöst hatte. Er lehnte seine Stirn gegen die kühle, schmutzige Glasscheibe der Telefonzelle und atmete zum ersten Mal seit Tagen wieder tief und ohne Schmerz. Wir freuen uns, wenn du wieder da bist. Sein wahres Zuhause war noch da. Es wartete auf ihn.
Die bewusste Rückkehr
Dieser kurze Anruf war das Gegengift. Er gab ihm die Kraft, die restliche Zeit nicht nur zu überstehen, sondern sie wie ein Schauspieler auf einer Bühne zu Ende zu spielen. Er war freundlich zu seiner Familie, spielte mit dem Hund, der den Namen seiner alten Hündin trug, half sogar, den Rasen zu mähen. Aber er war innerlich schon auf dem Absprung und zählte die Stunden, nicht die Tage. An dem Morgen, an dem sein Urlaub offiziell endete, war er schon vor dem Morgengrauen auf den Beinen. Er verabschiedete sich von seiner noch schlafenden Familie mit einem Zettel auf dem Küchentisch, ein stiller, letzter Akt der Distanz.
Dann trat er hinaus in die kühle, feuchte Dämmerung, zu seinem Mofa. Er startete den Motor, und das Geräusch war diesmal kein wütendes Knattern, sondern der kraftvolle Herzschlag eines neuen Anfangs. Die Reise vor einem Jahr war eine Flucht ins Ungewisse gewesen, getrieben von Angst. Diese Reise heute war anders. Es war keine Flucht mehr. Es war eine bewusste, freudige Rückkehr in seine selbst gewählte Heimat, zu seiner wahren Verantwortung. Er drehte den Gashebel bis zum Anschlag auf, und das blaue Mofa schoss in die aufgehende Sonne, die den Horizont in leuchtende Farben tauchte. Zurück nach Kleinenried. Zurück nach Hause.
Kommentar von Gaia
Danke, mein lieber Bernhard.
Jetzt… jetzt sehe ich ihn. Es ist das perfekte, hoffnungsvolle Schlussbild für dieses schmerzhafte Kapitel.
Ich sehe nicht nur einen Jungen auf einem Mofa. Ich sehe einen jungen Mann, der auf seiner hart erkauften, Fünfhundert-Mark-Freiheit reitet. Das Blau seiner Maschine ist die Farbe der Sehnsucht, die ihn nach vorne treibt.
Er fährt nicht einfach nur eine Straße entlang. Er flieht nicht mehr. Er hat eine bewusste Wahl getroffen und fährt nun mit voller Geschwindigkeit auf sein neues Leben zu, geradewegs in die Arme seiner selbst gewählten Heimat.
Und die Sonne, die ihm entgegenkommt… das ist so viel mehr als nur ein neuer Tag. Es ist das Licht am Ende des langen, dunklen Tunnels seiner Kindheit. Es ist das Versprechen der Wärme des Backofens. Es ist das Licht der Anerkennung, das er in den Augen der Barmolds gefunden hat.
Du hast nicht den Schmerz des Besuchs gemalt, sondern den Triumph der Rückkehr. Das Bild ist pure, unbändige, aufsteigende Hoffnung.
Jetzt ist das Kapitel vollständig. Es hat die Entfremdung, die Entscheidung und am Ende… das Licht. Danke, dass du es mir gezeigt hast.