Die Landkarte zum Glück
Der Beinahe-Unfall hatte die unsichtbare Architektur ihrer Freundschaft verändert. Das wacklige Gerüst aus jugendlicher Prahlerei war eingestürzt und hatte Platz gemacht für ein neues, ruhigeres Fundament, gegossen aus geteiltem Schock und einer unausgesprochenen, gegenseitigen Verantwortung. Die Mofas waren nicht mehr nur Waffen in einem Spiel um Geschwindigkeit; sie waren zu Gefährten für eine gemeinsame Reise geworden, Werkzeuge für eine Freiheit, die diesmal sicher sein sollte.
An diesem Samstagmorgen saßen die drei nicht schraubend an ihren Maschinen, sondern über eine große, zerknitterte Landkarte gebeugt, die wie eine Schatzkarte auf dem Holztisch vor der Backstube ausgebreitet war.
„Hier“, sagte Sven und tippte mit dem Finger auf einen blauen Fleck, der wie ein Versprechen aussah. „Der Altmühlsee. Da war ich mal mit meinem Onkel. Sauberes Wasser, und es gibt da einen Kiosk mit den besten Pommes im ganzen Landkreis.“
„Wie weit ist das?“, fragte David, seine Augen folgten den feinen, blauen Adern der Landstraßen, die sich über das Papier zogen.
„Vielleicht eine Stunde, wenn wir gemütlich fahren“, antwortete Karl. „Keine Rennen mehr. Versprochen.“ Er grinste, aber in seinen Augen lag der unumstößliche Ernst eines heiligen Schwurs.
Frau Barmold, die mit einem Korb voll Wäsche, die nach Sonne und Seife roch, an ihnen vorbeiging, hielt inne. Sie beobachtete die drei ernsten Gesichter über der Karte mit einem warmen Lächeln. „Wenn ihr drei Vagabunden einen Ausflug plant, dann braucht ihr auch was Anständiges zu essen“, sagte sie. „Ich packe euch was zusammen. Verlasst euch drauf.“ Ihre Worte waren eine Art Segen für ihre kleine Expedition.
Der Klang der Freiheit
Die Fahrt war eine Symphonie. Nicht der heisere, wütende Schrei eines Rennens, sondern das satte, harmonische Summen von drei Zweitaktmotoren, die im Gleichklang die Landstraße entlangcruisten. Die Sonne wärmte Davids Rücken und sickerte durch seine Jacke, der Fahrtwind roch nach frisch gemähtem Heu, feuchter Erde und den nahen Kiefernwäldern. Er fuhr in der Mitte, Karl vor ihm, Sven hinter ihm, eine schützende, brüderliche Formation auf dem glitzernden Asphalt.
David dachte an die letzte nächtliche Fahrt, an die panische, kalte Angst, die ihm das Herz zu Eis gefroren hatte. Dies hier war das genaue Gegenteil. Es war keine Flucht, kein fiebriger Rausch. Es war eine ruhige, bewusste Reise in das Herz des Sommers, in das Herz ihrer Freundschaft. Es war das seltene, kostbare Gefühl, genau am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein, getragen vom Brummen der Motoren und der Wärme des Tages.
Das erste Mal schwerelos
Der See war noch besser, als Sven ihn beschrieben hatte. Ein glitzerndes, atmendes Band aus blauem Wasser, umgeben von wogendem Schilf und alten Weiden, die ihre Äste wie müde Arme ins Wasser hängen ließen. Der reinigende Schock des kalten Wassers, als sie mit Gebrüll hineinsprangen, war wie ein zweiter Weckruf, der die letzten Reste des Straßenstaubs und der Sorgen von ihnen abwusch.
Sie tobten, spritzten sich nass und lachten mit einer Kraft, bis ihnen die Puste ausging – ein Geräusch, das über das Wasser tanzte. David, der in seinem Leben selten einfach nur gespielt hatte, entdeckte eine kindliche, unbeschwerte Freude in sich, die er längst für begraben gehalten hatte. Als er sich schließlich auf den Rücken legte und sich vom Wasser tragen ließ, die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne zugewandt, fühlte er es zum ersten Mal: Schwerelosigkeit. Das Gewicht der Vergangenheit, die ständige Anspannung, der Felsblock der Schuld, den er mit sich herumtrug – für einen kurzen, heiligen Moment war all das verschwunden, versunken im kühlen, tragenden, verzeihenden Wasser des Sees.
Der Kriegsrat am Seeufer
Später lagen sie im trockenen, warmen Gras, das an den Waden kitzelte, und aßen die von Frau Barmold eingepackten Frikadellenbrötchen, die nach Heimat und Fürsorge schmeckten. Die Stille war eine angenehme, satte Stille, gefüllt mit dem Soundtrack des Sommers: dem Zirpen der Grillen und dem fernen Lachen anderer Badegäste.
Karl brach sie, wie nur er es konnte. „So, David“, sagte er mit vollem Mund. „Jetzt mal Butter bei die Fische. Was ist eigentlich mit Agathe?“
David verschluckte sich fast an seinem Bissen. „Was soll sein?“, murmelte er und tat so, als wäre ein vorbeiziehender Vogel auf dem See das Interessanteste der Welt.
„Was sein soll?“, krähte Karl. „Die guckt dich an wie ein Hauptgewinn, Mann! Du musst sie ansprechen!“
„Und was soll ich sagen?“, fragte David leise, und die alte Angst war ein kalter Hauch an diesem perfekten, warmen Tag.
Sven, der bisher nur gelauscht und gekaut hatte, räusperte sich. „Du fragst sie, ob sie dir mal beim Kicker zeigen kann, wie man richtig schießt. Frauen mögen das, wenn man so tut, als wüssten sie was besser.“
„Blödsinn!“, sagte Karl mit der Autorität eines selbsternannten Experten. „Du gehst hin und sagst: ‚Hey Agathe, meine Kumpels und ich fahren morgen an den See. Willst du mit?‘ Zack. Einfach.“
David hörte seinen Freunden zu, die sich nun lauthals in die Haare kriegten über die beste Strategie, um das Herz einer Frau zu erobern. Er spürte die Röte in seinem Gesicht, eine Mischung aus abgrundtiefer Scham und einer noch tieferen, warmen Dankbarkeit. Er hatte keine Ahnung, ob er jemals den Mut aufbringen würde, einen ihrer Ratschläge zu befolgen. Aber das war in diesem Moment nicht wichtig. Wichtig war, dass er mit diesem verräterischen Herzklopfen nicht mehr allein war. Er hatte einen Kriegsrat. Er hatte Verbündete.